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Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit
Die Jahrestagung 2016 der Freien Akademie wurde vom 5.-8. Mai 2016 auf der Frankenakademie Schloss Schney bei Lichtenfels (Oberfranken) zum Thema Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit veranstaltet. 35 Teilnehmer hörten sieben Hauptreferate, erlebten originale Lutherstätten auf einer Exkursion nach Coburg und tauschten sich in Gesprächskreisen aus. Die wissenschaftliche Leitung der Tagung oblag dem Kirchenhistoriker Professor Dr. Ulrich Bubenheimer.
Freilich war schon vor Beginn der Tagung klar, dass ein Hauptreferat zur systematischen Einordnung der Hauptbegriffe Deutungsmacht und Pluralismus wegen Krankheit der Referentin und ein weiteres Hauptreferat zur katholischen Perspektive auf die Thematik mangels einer ReferentIn fehlten. Trotzdem konnten sich alle auf ein thematisch breit gespanntes Angebot freuen.
Beim Eröffnungsforum der Tagung gingen die Versammelten der Frage nach, wer denn mit welcher Legitimation in der Reformationszeit (1517-1555) die Macht beanspruchte, religiöse Texte und religiöse Handlungen zu interpretieren. Und was denn mit den Personen ist, die sich solchen Ansprüchen nicht unterwerfen wollten. Man weiß heute, dass es damals schon das Bedürfnis nach Subjektivität der Religiosität gab. Doch war der Spielraum hierzu während der Reformationszeit geringer als davor im Mittelalter. Das lag an der auf Kontroverse angelegten Gesamtlage der Zeit. Durch den reformatorischen Druck wurde auch im altgläubigen (Begriff für die Zeit vor 1555) bzw. im katholischen Bereich eine Einengung erzeugt, die sich dann im 19. Jahrhundert im Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ballt. Seit dem hohen Mittelalter haben diese Einengung vor allem die Dominikaner betrieben, die auch die heftigsten Gegner von Martin Luther (1483-1546) waren. Die Geschichte der protestantischen Kirchen war von Anfang an von extremer Intoleranz geprägt, so dass die evangelischen Amtskirchen bis heute aufs Ganze gesehen unter einem Pluralismusdefizit leiden. Tag für Tag veranschaulichen sie bis heute die These von Ernst Troeltsch, dass dissidente protestantische Bewegungen weiter in die Moderne führten und führen als die lutherische Konfession. Die Diskussion über all diese Sichtweisen zeigte deutlich ein Interesse der Versammelten auch an der Bedeutsamkeit des historischen Geschehens für unsere heutige Gesellschaft, die labil und fragil zwischen dem Postulat radikaler Offenheit und den Rufen nach Minimalkonsens und Leitkultur schillert.
Im ersten Hauptvortrag sprach Dr. Alejandro Zorzin über die Anfänge der Bildpolemik zwischen den religiösen Parteien der Reformationszeit. Mit Flugblättern und Flugschriften als neuem Massenmedium rangen die Parteiungen um die Deutungsmacht in religiösen Belangen und betrieben eine schonungslose mediale Demontage des Anderen, die dem ‚shitstorm‘ in heutigen online-Foren in nichts nachstand. Diese Unkultur haben die Kontroverstheologen der Reformationszeit nicht erfunden. Im sog. Reuchlinstreit (um 1508) nahm der Hebraist und Humanist Johannes Reuchlin (1455-1522) mit Unterstützung des Humanisten Ulrich von Hutten (1488-1523) den Antijudaismus der altgläubigen Theologen aufs Korn. Aberglaube, Unbildung, Unwissenheit und Neid hätten die obskuren Gestalten der altgläubigen Kirche („Dunkelmänner“) verblendet, was der Humanist auch in einem setting der klassischen Antike vom römischen Triumphzug ausdrückte, in dem ein Wagen mit Humanisten geradewegs durch das Tor des Triumphs, ein anderer aber in die entgegengesetzte Richtung in den Höllenschlund fuhr. Vorne in der Bildmitte liegt dabei der konvertierte Jude und daher besonderer Judenfeind Johannes Pfefferkorn (1469-1521) in seinem Erbrochenen, das von Hunden aufgeleckt wird. Die Gegenpartei ließ sich nicht lumpen und zeigt auf einem weiteren Flugblatt in einer Hinrichtungsphantasie Reuchlin nackt, abgeschlachtet und zur Enthauptung bereitet.
Diese Atmosphäre der verhärteten Fronten und der äußersten Brutalisierung wurde von Anfang an für die beginnende Reformation (ab 1517) prägend. Schon wegen dieser prozessualen Geschichtsentwicklung ist es müßig, von einer Epoche der Reformationszeit zu sprechen. Auch die reformatorisch-katholische Bildpolemik bedient sich eifrig der Animalisierung des Gegners und ist an Fäkal- und Obszöndarstellungen kaum überbietbar. Schon in der Bannandrohung wird Luther gut biblisch als wildes Schwein bezeichnet, das den Weinberg des Herrn verwüstet. Auch die reformatorische Seite sieht den altgläubigen Kontroverstheologen Johannes Eck (1486-1543) als wilden Eber, der vom Papst Bucheckern, sprich Geld, erhält, wenn er den Luther platt macht. Zorzin weiß in beeindruckender Weise alle Fassetten dieser shitstorms anhand frühneuzeitlicher Holzschnitte, die heute zugleich wertvollste Kunstwerke darstellen, zu entfalten. Diese Bildpolemik, gelegentlich mit deutschen und lateinischen Texten versehen, hatte eine doppelte Zielgruppe, nämlich sowohl Gebildete als auch Fürsten und Stadtbürger. In einem kommunikativen Prozess erreichten sie dann auch niedere Schichten und konnten auch Analphabeten klar machen, wer hier die Guten und die Bösen seien. Insofern hat das Bild umfassendere Deutungsmacht als das geschriebene Wort.
Dann zeigte Dr. Dieter Fauth an den Sichtweisen Johannes Reuchlins auf das Judentum, dass zur Reformationszeit Deutungsmacht auch vernunftgeleitet geteilt werden konnte. Reuchlin war hier das positive Gegenbild zu Luther. 1523 instrumentalisierte Luther den Juden für seine Polemik gegen die altgläubige Kirche; 1543 forderte er die Fürsten und Herren dann zur massenhaften Vernichtung der Juden in ihrer Existenz auf. Reuchlin aber war der Überzeugung, dass das Judentum die volle religiöse Wahrheit umfasse. Freilich meinte er – hier de facto antijudaistisch –, dass diese Wahrheit erst durch das Christentum klar und offenbar geworden sei. Im Streit mit Pfefferkorn wird deutlich, dass Reuchlin das gesamte jüdische Schrifttum wertschätzte. Immerhin konnte er mit dieser Meinung von 1510 die jüdischen Schriften im Reich deutscher Nationen für mehr als 40 Jahre vor der Vernichtung schützen. Hierbei argumentierte er juristisch, philosophisch und philologisch und kann daher unter die Voraufklärer gereiht werden. Die Aufklärung war dann ein Türöffner für die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts und das damalige Postulat von der Gleichheit aller Menschen. Doch hat die Aufklärung mit vielen antijudaistischen Standpunkten sog. aufgeklärter Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts in Philologie, Theologie, Philosophie und Soziologie den Antijudaismus wissenschaftlich verbrämt auch weiter getragen.
Prof. Dr. Hartmut Bobzin sprach sodann über Perspektiven auf Islam und Muslime in der Reformationszeit. In dieser Zeit dehnte sich der Islam geografisch enorm aus. Konnte er 1453 Konstantinopel (Istanbul) erobern, stand er 1529 zum ersten Mal und 1683 zum zweiten Mal vor Wien. Diese Bedrohung des christlichen Europa durch den Islam band bei den Habsburgern und den Fürstentümern viel Geld und militärische Kräfte, was das Agieren Luthers und der weiteren Reformatoren im Inneren des Reiches erleichterte. So wurde der Islam ungewollt zum Geburtshelfer des Protestantismus. Intellektuell hat sich aber für den Islam im 16. Jahrhundert noch niemand interessiert – ganz im Unterschied zum Interesse am Judentum. Einschlägige Ansätze zeigte nur Sebastian Münster. Doch gibt es Schriften des 16. Jahrhunderts, die sagen, dass islamische Staatengebilde genau so vorbildlich sind wie z. B. das venezianische Reich.
In einem weiteren Hauptvortrag betonte Prof. Dr. Günter Vogler zu der Frage: Ist die marxistische Deutung der Reformation überholt? – Versuch einer Antwort am Beispiel des Thomas-Müntzer-Bildes, dass seit dem 19. Jahrhundert sowohl die Reformation als auch der Bauernkrieg wiederholt als Revolution bezeichnet wurden. Angesichts der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kritisierten Vernachlässigung der historischen Verortung der Reformation zugunsten einer einseitig theologischen Interpretation, sahen marxistische Historiker sich herausgefordert, den Revolutionsbegriff für die frühe Neuzeit zu konkretisieren. Das fand seinen Niederschlag in dem die Wechselbeziehungen zwischen Reformation und Bauernkrieg betonenden Konzept, sie als frühe Form einer bürgerlichen Revolution darzustellen. In diesem Zusammenhang erfuhr auch das Müntzerbild einschneidende Veränderungen, indem ältere säkularisierte Sichten überwunden und Müntzer primär als radikaler Prediger und Seelsorger verstanden wurde. Das war möglich, weil die Müntzerforschung in der DDR zunehmend mit Historikern und Theologen in der BRD und in anderen Ländern kooperierte. Doch mit dem Ende der DDR verlor die marxistische Forschung ihren institutionellen Rückhalt im universitären Raum, und das Konzept einer frühen bürgerlichen Revolution wurde als Diskussionsthema ausgeblendet, obwohl damit relevant gewordene Fragen nicht in jedem Fall abgegolten waren. Viele zum Müntzerbild gewonnene Erkenntnisse erwiesen sich indes als nicht überholt. Auch bleibt es bedenkenswert, dass Müntzer uns darauf hinweist, dass es in der Geschichte immer Alternativen gibt und eine Gesellschaft, die Visionen verwirft, in reinen Pragmatismus versinkt. An sein Streben nach Brüderlichkeit und Gleichheit sollte deshalb immer wieder erinnert werden.
Fabian Scheidler sprach sodann über die Entstehung des modernen Weltsystems und die Zerschlagung egalitärer Bewegungen in der Reformationszeit. In der Reformationszeit wurde das kapitalistische Weltsystem, in dem wir noch heute leben, begründet und dies im Widerstand gegen egalitäre Bewegungen. Dieses Weltsystem stellte sich als enorm dynamisch und produktiv, zugleich aber auch als extrem destruktiv heraus. Völkermorde, Vertreibung, Kulturvernichtung, Naturzerstörung, Kriege, Spaltung zwischen Arm und Reich, globale Krisen sind die Folge. In Reformation und Humanismus hochgehaltene Heilsbringer, wie Glaube oder Zivilisation, Vernunft, Fortschritt und Entwicklung sind nur Mythen der Moderne aus der klassischen Antike. Wir begründen unseren Wohlstand mit diesen Kräften. Stattdessen wirken hier die Monster der Moderne, nämlich Inquisition, Hexenprozesse, Folter, Blutgesetzgebung, ökonomische Spaltung und Entrechtung der Frauen. Es ist ein Mythos, dies seien Erscheinungen des Mittelalters. Vielmehr sind Reformation und frühe Neuzeit die Epoche dieser Monster. Durch sie wurden egalitäre Bewegungen, veranlasst durch Armutsbewegungen im Mittelalter (Franz von Assisi, Joachim von Fiore), wie sie sich nach dem ‚großen Hunger‘ (1315-22) und der Pest (1348) gebildet hatten, zerschlagen. In der Reformationszeit kamen Kirchengüter in die Hand der Landesherren (Luther!), nicht der Kommunen (Müntzer!). Die obrigkeitliche, autoritäre statt der egalitären Struktur setzt sich durch. Nach der Zerschlagung egalitärer Strukturen im Bauernkrieg 1524/25 und der Täuferbewegung 1535, war die egalitäre Bewegung in Deutschland, aber auch in Frankreich und England, über Jahrhunderte zerstört. Bis heute ist dieses Weltsystem in der Krise, besonders als eine Krise der Biosphäre.
Der Hauptvortrag von Prof. Dr. Dieter B. Herrmann zeigte, wie die Entdeckung des heleozentrischen Weltbildes durch Luthers Zeitgenossen Nikolaus Kopernikus (1473-1543) eine radikale Wende in der Astrophysik bedeutete. Kopernikus kam 1510 zu seiner Entdeckung, konnte sie aber wegen Arbeitsüberlastung erst 1543 differenziert veröffentlichen. Weder die katholische Kirche noch der Protestantismus hatten zur Reformationszeit ein Problem mit dieser Entdeckung. Georg J. Rheticus (1514-1574) im katholischen Bereich und Andreas Osiander (1498-1552) im evangelischen Bereich beförderten Drucklegungen von Kopernikus‘ Werk, das dadurch geschützt wurde, dass es von Osiander als Hypothese bezeichnet wird. Kopernikus machte Papst Paul III sein Buch mit dem Argument schmackhaft, dass damit auch der Kirchenkalender, insbesondere der jährliche Ostertermin, genauer bestimmt werden könne. So musste Kopernikus keine Angst vor der Inquisition haben, die zu dieser Zeit keine Rolle spielte. Auch Philipp Melanchthon (1497-1560), der wegen Jos 10,12-13 („Befiehl der Sonne still zu stehen“) seine Zweifel an der Heleozentrik hatte, blieb gegenüber Kopernikus respektvoll. Luther hatte kein Interesse an der Entdeckung des Kopernikus; die Schrift von 1543 kam für Luther auch zu spät. – Ganz im Unterschied zu seiner Sicht auf die Astronomie war Melanchthon ein großer Anhänger der Astrologie. Sterne waren für ihn Anzeiger des göttlichen Willens. Man sehe ja, dass Sonne und Mond das Erdgeschehen beeinflussen; warum also nicht alle Gestirne. In diesem Tenor hielt Melanchthon manche Vorlesungen. Luther lehnte die Astrologie ab. Nicht die Gestirne, sondern ihr Schöpfer würde das Erdgeschehen bestimmen. Auch Kopernikus hielt von Astrologie nichts. Und auch der damalige Papst Sixtus V (1521-1590) war ein Gegner der Astrologie. – Nachdem die Reformationszeit keine Beanstandung an Kopernikus genommen hatte, kam sein Werk 1616 bis 1838 auf den katholischen Index. Galilei musste wegen der Heleozentrik einen inquisitorischen Prozess erdulden (1632). Das heißt, die katholische Kirche hat erst lange nach dem Tod von Kopernikus die mögliche Bedrohung ihrer Macht durch dieses Weltbild gesehen. Heute wird ein Unterschied zwischen geoffenbarten Wahrheiten der Bibel und erforschten Fakten der Astronomie gesehen. Beide Bereiche kommen zu Aussagen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und sich daher nicht widersprechen können. Dies sah bereits Kopernikus so.
Ein von Dr. Dieter Fauth gestalteter Abend mit Filmen zur Reformationszeit zeigte, wie sich Ergebnisse des Vortrages Vogler zur marxistischen Müntzerforschung im wissenschaftsfernen Bereich der populären Filme widerspiegelt. Ein monumentaler Reformationsfilm der DDR von 1983 zeigt einen hohen Grad an Sachlichkeit und überparteilicher Verträglichkeit, so dass der Film damals selbst in der BRD bessere Rezensionen als der zeitgleich in der BRD produzierte Film zur Reformation erhielt. Insgesamt leiden die westdeutschen Filme mehr an evangelischer Erbauung als der Film der DDR etwa an einer Heroisierung Müntzers. Die Abwicklung der Müntzerforschung nach 1990 und damit die Reduktion von Konkurrenz und Dialog in der Reformationsforschung zeigt sich im populären Bereich des historischen Films durch einen Absturz des Niveaus. So betreibt der monumentale Kinofilm zu Luther von 2003 ohne jede Rücksicht auf historische Treue evangelische Erbauung.
Der letzte Hauptvortrag von Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer widmete sich dem Spannungsverhältnis von Einheitsanspruch und Pluralitätsbedürfnissen in der Reformationszeit am Beispiel von Andreas Gronewalt. Der Notar und Kleriker Gronewalt (* um 1480) hatte eine umfassende, gemischte Bibliothek aus den Bereichen Artes, Humanismus, weltliches und kanonisches Recht, Theologisch-praktische Bücher, Erbauungsliteratur und Medizin. Dabei handelt es sich um vorreformatorisch-scholastische Bücher, altgläubige und reformatorische Kontroversliteratur sowie Schriften von Andreas Bodenstein (1486-1541), Thomas Müntzer (vor 1491-1525) und anderen Zeitgenossen. Entsprechend vielfältig und konfessionell ungebunden waren seine Sichtweisen. Ein von ihm in einem Buch notierter Wahlspruch lautet: „Pflücke die Trauben, die Dornen meide“. Entsprechend ging er mit Büchern und mit religiösen Einstellungen um. Das heutige Wissen von seinen Einstellungen kann durch die Analyse seiner zahlreichen Glossen in seinen Büchern erweitert werden. Sie zeigen einen pragmatischen und lebensfrohen Menschen („Lebe, lasse es Dir gut gehen, sei froh und sei Andreas gewogen.“), der den Kirchenvater Hieronymus verehrt („Hieronymus, Hieronymus. Die Wiederholung deines Namens ist ein Zeichen der Liebe …“), Wert auf humanistische Bildung legt („Tugend überlebt das Begräbnis“; „Erasmus, ein Deutscher, hat die lateinische Übersetzung [die Vulgata] verbessert … Ewiges Lob …“) und nicht viel von der beginnenden Reformation hielt („ein gewisser Mönch Martin Luther, Augustiner“), aber auch nichts vom Mönchtum („Platter Mann [Mann mit Tonsur; Mönch] armer Mann, hätte er noch so gute Kleider an“). So pflegt er z. B. Heiligenkritik („Oh heiliger Antonio, groß, schütze mich …“ korrigiert er in „Oh Jesu, schütze mich …“). Insgesamt zeigt Gronewalt im Zeitalter rivalisierender Deutungsmächte das Lebensmodell, durch begrenzte Teilhabe an der öffentlichen, von den Mächten kontrollierter Religion, nicht aufzufallen, und so umso mehr im privaten Bereich die wirklichen Interessen leben zu können. Nachdem die aufkommende Reformationszeit zunächst viele „Märtyrer“ produzierte, wird das bei Gronewalt beobachtbare Lebensmodell einer Art verborgenem Dissidentismus unter konfessionell Abweichenden zunehmend bedeutsam und herrscht spätestens im 17. Jahrhundert in lutherischen Bereichen vor.
In einem von Dr. Volker Mueller geleiteten abschließenden Forum lobte der wissenschaftliche Tagungsleiter Prof. Bubenheimer das große Interesse und die Diskussionskultur der Teilnehmer und den Ertrag der Tagung, jedenfalls für ihn selbst. Fauth sprach von einer ausbalancierten Tagung mit einer angemessenen Mischung aus historischen Inhalten und Aktualbezügen bzw. kleinteiligen Erkenntnissen und Überblicken.
Dieter Fauth
Abschied von Prof. Dr. Hans-Dietrich Kahl
Am 30. September 2016 ist das Ehrenmitglied und langjährige Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Freien Akademie, Herr Prof. Dr. Hans-Dietrich Kahl, im 96. Lebensjahr verstorben. Er war ein international bekannter deutscher Historiker für mittelalterliche Geschichte und ein engagierter Vertreter der Unitarier.
1957 promovierte er an der Universität Göttingen zum Dr. phil. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Publikationen, die Hans-Dietrich Kahl schon seit 1953 veröffentlichte, konnte er sich 1964 an der Universität Gießen habilitieren. 1970 wurde er Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Gießen.
Obwohl er seit 1985 im Ruhestand war, setzte er seine Forschungen zur mittelalterlichen Missionsgeschichte, den Anfängen deutsch-slawischer Auseinandersetzung und der mittelalterlichen Staatssymbolik fort. Hans-Dietrich Kahl betrieb seine Forschungen in engem Kontakt mit polnischen und slowenischen Forschern. Er war auswärtiges Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Künste zu Krakau und der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste zu Ljubljana/Laibach. Ferner hat Kahl in diversen Fachgremien mitgearbeitet.
Seine Forschungsergebnisse hat er in Veröffentlichungen niedergelegt. Dies betrifft vor allem seine Hauptwerke »Slawen und Deutsche in der brandenburgischen Geschichte des 12. Jahrhunderts« (1964) und »Der Staat der Karantanen« (2002) sowie etwa 100 meist umfangreichere Abhandlungen über historische Spezialuntersuchungen. Hans-Dietrich Kahl hat wichtige Beiträge zur Geschichte des Unitarismus und zu den Fragen einer toleranten unitarischen Lebenshaltung und Weltdeutung verfasst.
Die Freie Akademie hat er durch mehrere Vorträge und Tagungsleitungen sowie durch seine Mitwirkung im Wissenschaftlichen Beirat wesentlich mit befruchtet und gestaltet. Er war ihr Ehrenmitglied in Würdigung seiner Verdienste für die Freie Akademie. Noch im Jahr 2016 hat er uns verschiedene wertvolle Anregungen für unsere akademische Arbeit gegeben. In den vielen Gesprächen mit ihm haben wir ihn stets als aufrichtigen und hoch engagierten Freund der Freien Akademie erlebt.
Für sein Engagement sind wir außerordentlich dankbar. Wir verneigen uns vor ihm und werden sein Andenken in Ehren halten.
Dr. Volker Mueller
Präsident der Freien Akademie
Ankündigung
der wissenschaftlichen Tagung der FA vom 25 bis 28. Mai 2017
Die Freie Akademie wird ihre Tagung im Jahr 2017 wieder in der Frankenakademie Schloss Schney, bei Lichtenfels durchführen. Während der Tagung wird im Rahmen von Vorträgen, Kurzreferaten und Diskussionsbeiträgen das Thema
„Macht der Bilder, Macht der Sprache“ behandelt.
Wir leben in einer Welt voller Bilder, alleine, wenn wir an die vielen Bilder denken, die durch die Werbung auf uns einströmen, oder die viele Zeit, die Menschen vor ihrem Computer oder ihrem Smartphon verbringen. Aber wir leben auch in einer Welt mentaler Bilder: von Vor-Stellungen, Simulationen, Erinnerungen. Angst und Freude sind von schlechten und schönen Bildern begleitet.
Die Rolle und die Bedeutung mentaler Bilder werden in den Wissenschaften unterschiedlich gesehen. Eine weitgehende These ist die „embodied-simulation-Hypothese“ in den Kognitionswissenschaften: Nach ihr beruht Sprechen und Denken grundlegend auf inneren, mentalen Bildern, die in der Regel unbewusst ablaufen. Reden bedeutet demnach, ein Bild vor dem „inneren Auge“ abzurufen und in Sprache zu kleiden. Zuhören und lesen heißt: durch die gehörte Sprache oder gesehenen Worte werden innere Vorstellungen aktiviert, auf die dann reagiert wird. Nach dieser These hängt die Macht der Sprache von ihrer Fähigkeit ab, kräftige innere Bilder im Adressaten hervorzurufen. Diese These kann durch phänomenologische Ansätze in der Philosophie fundiert und durch viele Befunde aus unterschiedlichen Feldern gestützt werden.
Auf der Tagung soll die Bildsprache des 20. und 21. Jahrhunderts in Werbung und politischem Spin, die Sprache des Rechtspopulismus und grundlegende Bilder im Reden über Soziales und die Wirtschaft thematisiert werden. Welche Rolle spielen mentale Bilder für Wahrnehmen und Erkennen, für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für gesellschaftliche Prozesse?
Auf unserer Tagung werden Expertinnen und Experten aus den Kognitionswissenschaften, den Bildwissenschaften, der Philosophie und der Ökonomie zusammenwirken. Erwartet werden darf eine Synthese aus unserem fruchtbaren interdisziplinären Ansatz von Wissen, Information und Urteil. Das erscheint uns allerdings kaum anders möglich als durch einen fachlichen Diskurs, um Daseins-, Kognitions- und Kommunikationsfragen des Menschen zu verstehen und zu klären.
In Arbeitsgruppen besteht die Möglichkeit, sich speziellen Fragen des Themas zu widmen.
Seien Sie herzlich willkommen vom 25. bis 28. Mai 2017 auf Schloss Schney. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme an unserer sicherlich spannenden Tagung.
Dr. Volker Mueller
Präsident der Freien Akademie
Prof. Dr. Walter O. Ötsch
Wissenschaftlicher Tagungsleiter 2017
Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit
Die Jahrestagung 2016 der Freien Akademie wurde vom 5.-8. Mai 2016 auf der Frankenakademie Schloss Schney bei Lichtenfels (Oberfranken) zum Thema Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit veranstaltet. 35 Teilnehmer hörten sieben Hauptreferate, erlebten originale Lutherstätten auf einer Exkursion nach Coburg und tauschten sich in Gesprächskreisen aus. Die wissenschaftliche Leitung der Tagung oblag dem Kirchenhistoriker Professor Dr. Ulrich Bubenheimer.
Freilich war schon vor Beginn der Tagung klar, dass ein Hauptreferat zur systematischen Einordnung der Hauptbegriffe Deutungsmacht und Pluralismus wegen Krankheit der Referentin und ein weiteres Hauptreferat zur katholischen Perspektive auf die Thematik mangels einer ReferentIn fehlten. Trotzdem konnten sich alle auf ein thematisch breit gespanntes Angebot freuen.
Beim Eröffnungsforum der Tagung gingen die Versammelten der Frage nach, wer denn mit welcher Legitimation in der Reformationszeit (1517-1555) die Macht beanspruchte, religiöse Texte und religiöse Handlungen zu interpretieren. Und was denn mit den Personen ist, die sich solchen Ansprüchen nicht unterwerfen wollten. Man weiß heute, dass es damals schon das Bedürfnis nach Subjektivität der Religiosität gab. Doch war der Spielraum hierzu während der Reformationszeit geringer als davor im Mittelalter. Das lag an der auf Kontroverse angelegten Gesamtlage der Zeit. Durch den reformatorischen Druck wurde auch im altgläubigen (Begriff für die Zeit vor 1555) bzw. im katholischen Bereich eine Einengung erzeugt, die sich dann im 19. Jahrhundert im Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ballt. Seit dem hohen Mittelalter haben diese Einengung vor allem die Dominikaner betrieben, die auch die heftigsten Gegner von Martin Luther (1483-1546) waren. Die Geschichte der protestantischen Kirchen war von Anfang an von extremer Intoleranz geprägt, so dass die evangelischen Amtskirchen bis heute aufs Ganze gesehen unter einem Pluralismusdefizit leiden. Tag für Tag veranschaulichen sie bis heute die These von Ernst Troeltsch, dass dissidente protestantische Bewegungen weiter in die Moderne führten und führen als die lutherische Konfession. Die Diskussion über all diese Sichtweisen zeigte deutlich ein Interesse der Versammelten auch an der Bedeutsamkeit des historischen Geschehens für unsere heutige Gesellschaft, die labil und fragil zwischen dem Postulat radikaler Offenheit und den Rufen nach Minimalkonsens und Leitkultur schillert.
Im ersten Hauptvortrag sprach Dr. Alejandro Zorzin über die Anfänge der Bildpolemik zwischen den religiösen Parteien der Reformationszeit. Mit Flugblättern und Flugschriften als neuem Massenmedium rangen die Parteiungen um die Deutungsmacht in religiösen Belangen und betrieben eine schonungslose mediale Demontage des Anderen, die dem ‚shitstorm‘ in heutigen online-Foren in nichts nachstand. Diese Unkultur haben die Kontroverstheologen der Reformationszeit nicht erfunden. Im sog. Reuchlinstreit (um 1508) nahm der Hebraist und Humanist Johannes Reuchlin (1455-1522) mit Unterstützung des Humanisten Ulrich von Hutten (1488-1523) den Antijudaismus der altgläubigen Theologen aufs Korn. Aberglaube, Unbildung, Unwissenheit und Neid hätten die obskuren Gestalten der altgläubigen Kirche („Dunkelmänner“) verblendet, was der Humanist auch in einem setting der klassischen Antike vom römischen Triumphzug ausdrückte, in dem ein Wagen mit Humanisten geradewegs durch das Tor des Triumphs, ein anderer aber in die entgegengesetzte Richtung in den Höllenschlund fuhr. Vorne in der Bildmitte liegt dabei der konvertierte Jude und daher besonderer Judenfeind Johannes Pfefferkorn (1469-1521) in seinem Erbrochenen, das von Hunden aufgeleckt wird. Die Gegenpartei ließ sich nicht lumpen und zeigt auf einem weiteren Flugblatt in einer Hinrichtungsphantasie Reuchlin nackt, abgeschlachtet und zur Enthauptung bereitet.
Diese Atmosphäre der verhärteten Fronten und der äußersten Brutalisierung wurde von Anfang an für die beginnende Reformation (ab 1517) prägend. Schon wegen dieser prozessualen Geschichtsentwicklung ist es müßig, von einer Epoche der Reformationszeit zu sprechen. Auch die reformatorisch-katholische Bildpolemik bedient sich eifrig der Animalisierung des Gegners und ist an Fäkal- und Obszöndarstellungen kaum überbietbar. Schon in der Bannandrohung wird Luther gut biblisch als wildes Schwein bezeichnet, das den Weinberg des Herrn verwüstet. Auch die reformatorische Seite sieht den altgläubigen Kontroverstheologen Johannes Eck (1486-1543) als wilden Eber, der vom Papst Bucheckern, sprich Geld, erhält, wenn er den Luther platt macht. Zorzin weiß in beeindruckender Weise alle Fassetten dieser shitstorms anhand frühneuzeitlicher Holzschnitte, die heute zugleich wertvollste Kunstwerke darstellen, zu entfalten. Diese Bildpolemik, gelegentlich mit deutschen und lateinischen Texten versehen, hatte eine doppelte Zielgruppe, nämlich sowohl Gebildete als auch Fürsten und Stadtbürger. In einem kommunikativen Prozess erreichten sie dann auch niedere Schichten und konnten auch Analphabeten klar machen, wer hier die Guten und die Bösen seien. Insofern hat das Bild umfassendere Deutungsmacht als das geschriebene Wort.
Dann zeigte Dr. Dieter Fauth an den Sichtweisen Johannes Reuchlins auf das Judentum, dass zur Reformationszeit Deutungsmacht auch vernunftgeleitet geteilt werden konnte. Reuchlin war hier das positive Gegenbild zu Luther. 1523 instrumentalisierte Luther den Juden für seine Polemik gegen die altgläubige Kirche; 1543 forderte er die Fürsten und Herren dann zur massenhaften Vernichtung der Juden in ihrer Existenz auf. Reuchlin aber war der Überzeugung, dass das Judentum die volle religiöse Wahrheit umfasse. Freilich meinte er – hier de facto antijudaistisch –, dass diese Wahrheit erst durch das Christentum klar und offenbar geworden sei. Im Streit mit Pfefferkorn wird deutlich, dass Reuchlin das gesamte jüdische Schrifttum wertschätzte. Immerhin konnte er mit dieser Meinung von 1510 die jüdischen Schriften im Reich deutscher Nationen für mehr als 40 Jahre vor der Vernichtung schützen. Hierbei argumentierte er juristisch, philosophisch und philologisch und kann daher unter die Voraufklärer gereiht werden. Die Aufklärung war dann ein Türöffner für die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts und das damalige Postulat von der Gleichheit aller Menschen. Doch hat die Aufklärung mit vielen antijudaistischen Standpunkten sog. aufgeklärter Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts in Philologie, Theologie, Philosophie und Soziologie den Antijudaismus wissenschaftlich verbrämt auch weiter getragen.
Prof. Dr. Hartmut Bobzin sprach sodann über Perspektiven auf Islam und Muslime in der Reformationszeit. In dieser Zeit dehnte sich der Islam geografisch enorm aus. Konnte er 1453 Konstantinopel (Istanbul) erobern, stand er 1529 zum ersten Mal und 1683 zum zweiten Mal vor Wien. Diese Bedrohung des christlichen Europa durch den Islam band bei den Habsburgern und den Fürstentümern viel Geld und militärische Kräfte, was das Agieren Luthers und der weiteren Reformatoren im Inneren des Reiches erleichterte. So wurde der Islam ungewollt zum Geburtshelfer des Protestantismus. Intellektuell hat sich aber für den Islam im 16. Jahrhundert noch niemand interessiert – ganz im Unterschied zum Interesse am Judentum. Einschlägige Ansätze zeigte nur Sebastian Münster. Doch gibt es Schriften des 16. Jahrhunderts, die sagen, dass islamische Staatengebilde genau so vorbildlich sind wie z. B. das venezianische Reich.
In einem weiteren Hauptvortrag betonte Prof. Dr. Günter Vogler zu der Frage: Ist die marxistische Deutung der Reformation überholt? – Versuch einer Antwort am Beispiel des Thomas-Müntzer-Bildes, dass seit dem 19. Jahrhundert sowohl die Reformation als auch der Bauernkrieg wiederholt als Revolution bezeichnet wurden. Angesichts der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kritisierten Vernachlässigung der historischen Verortung der Reformation zugunsten einer einseitig theologischen Interpretation, sahen marxistische Historiker sich herausgefordert, den Revolutionsbegriff für die frühe Neuzeit zu konkretisieren. Das fand seinen Niederschlag in dem die Wechselbeziehungen zwischen Reformation und Bauernkrieg betonenden Konzept, sie als frühe Form einer bürgerlichen Revolution darzustellen. In diesem Zusammenhang erfuhr auch das Müntzerbild einschneidende Veränderungen, indem ältere säkularisierte Sichten überwunden und Müntzer primär als radikaler Prediger und Seelsorger verstanden wurde. Das war möglich, weil die Müntzerforschung in der DDR zunehmend mit Historikern und Theologen in der BRD und in anderen Ländern kooperierte. Doch mit dem Ende der DDR verlor die marxistische Forschung ihren institutionellen Rückhalt im universitären Raum, und das Konzept einer frühen bürgerlichen Revolution wurde als Diskussionsthema ausgeblendet, obwohl damit relevant gewordene Fragen nicht in jedem Fall abgegolten waren. Viele zum Müntzerbild gewonnene Erkenntnisse erwiesen sich indes als nicht überholt. Auch bleibt es bedenkenswert, dass Müntzer uns darauf hinweist, dass es in der Geschichte immer Alternativen gibt und eine Gesellschaft, die Visionen verwirft, in reinen Pragmatismus versinkt. An sein Streben nach Brüderlichkeit und Gleichheit sollte deshalb immer wieder erinnert werden.
Fabian Scheidler sprach sodann über die Entstehung des modernen Weltsystems und die Zerschlagung egalitärer Bewegungen in der Reformationszeit. In der Reformationszeit wurde das kapitalistische Weltsystem, in dem wir noch heute leben, begründet und dies im Widerstand gegen egalitäre Bewegungen. Dieses Weltsystem stellte sich als enorm dynamisch und produktiv, zugleich aber auch als extrem destruktiv heraus. Völkermorde, Vertreibung, Kulturvernichtung, Naturzerstörung, Kriege, Spaltung zwischen Arm und Reich, globale Krisen sind die Folge. In Reformation und Humanismus hochgehaltene Heilsbringer, wie Glaube oder Zivilisation, Vernunft, Fortschritt und Entwicklung sind nur Mythen der Moderne aus der klassischen Antike. Wir begründen unseren Wohlstand mit diesen Kräften. Stattdessen wirken hier die Monster der Moderne, nämlich Inquisition, Hexenprozesse, Folter, Blutgesetzgebung, ökonomische Spaltung und Entrechtung der Frauen. Es ist ein Mythos, dies seien Erscheinungen des Mittelalters. Vielmehr sind Reformation und frühe Neuzeit die Epoche dieser Monster. Durch sie wurden egalitäre Bewegungen, veranlasst durch Armutsbewegungen im Mittelalter (Franz von Assisi, Joachim von Fiore), wie sie sich nach dem ‚großen Hunger‘ (1315-22) und der Pest (1348) gebildet hatten, zerschlagen. In der Reformationszeit kamen Kirchengüter in die Hand der Landesherren (Luther!), nicht der Kommunen (Müntzer!). Die obrigkeitliche, autoritäre statt der egalitären Struktur setzt sich durch. Nach der Zerschlagung egalitärer Strukturen im Bauernkrieg 1524/25 und der Täuferbewegung 1535, war die egalitäre Bewegung in Deutschland, aber auch in Frankreich und England, über Jahrhunderte zerstört. Bis heute ist dieses Weltsystem in der Krise, besonders als eine Krise der Biosphäre.
Der Hauptvortrag von Prof. Dr. Dieter B. Herrmann zeigte, wie die Entdeckung des heleozentrischen Weltbildes durch Luthers Zeitgenossen Nikolaus Kopernikus (1473-1543) eine radikale Wende in der Astrophysik bedeutete. Kopernikus kam 1510 zu seiner Entdeckung, konnte sie aber wegen Arbeitsüberlastung erst 1543 differenziert veröffentlichen. Weder die katholische Kirche noch der Protestantismus hatten zur Reformationszeit ein Problem mit dieser Entdeckung. Georg J. Rheticus (1514-1574) im katholischen Bereich und Andreas Osiander (1498-1552) im evangelischen Bereich beförderten Drucklegungen von Kopernikus‘ Werk, das dadurch geschützt wurde, dass es von Osiander als Hypothese bezeichnet wird. Kopernikus machte Papst Paul III sein Buch mit dem Argument schmackhaft, dass damit auch der Kirchenkalender, insbesondere der jährliche Ostertermin, genauer bestimmt werden könne. So musste Kopernikus keine Angst vor der Inquisition haben, die zu dieser Zeit keine Rolle spielte. Auch Philipp Melanchthon (1497-1560), der wegen Jos 10,12-13 („Befiehl der Sonne still zu stehen“) seine Zweifel an der Heleozentrik hatte, blieb gegenüber Kopernikus respektvoll. Luther hatte kein Interesse an der Entdeckung des Kopernikus; die Schrift von 1543 kam für Luther auch zu spät. – Ganz im Unterschied zu seiner Sicht auf die Astronomie war Melanchthon ein großer Anhänger der Astrologie. Sterne waren für ihn Anzeiger des göttlichen Willens. Man sehe ja, dass Sonne und Mond das Erdgeschehen beeinflussen; warum also nicht alle Gestirne. In diesem Tenor hielt Melanchthon manche Vorlesungen. Luther lehnte die Astrologie ab. Nicht die Gestirne, sondern ihr Schöpfer würde das Erdgeschehen bestimmen. Auch Kopernikus hielt von Astrologie nichts. Und auch der damalige Papst Sixtus V (1521-1590) war ein Gegner der Astrologie. – Nachdem die Reformationszeit keine Beanstandung an Kopernikus genommen hatte, kam sein Werk 1616 bis 1838 auf den katholischen Index. Galilei musste wegen der Heleozentrik einen inquisitorischen Prozess erdulden (1632). Das heißt, die katholische Kirche hat erst lange nach dem Tod von Kopernikus die mögliche Bedrohung ihrer Macht durch dieses Weltbild gesehen. Heute wird ein Unterschied zwischen geoffenbarten Wahrheiten der Bibel und erforschten Fakten der Astronomie gesehen. Beide Bereiche kommen zu Aussagen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und sich daher nicht widersprechen können. Dies sah bereits Kopernikus so.
Ein von Dr. Dieter Fauth gestalteter Abend mit Filmen zur Reformationszeit zeigte, wie sich Ergebnisse des Vortrages Vogler zur marxistischen Müntzerforschung im wissenschaftsfernen Bereich der populären Filme widerspiegelt. Ein monumentaler Reformationsfilm der DDR von 1983 zeigt einen hohen Grad an Sachlichkeit und überparteilicher Verträglichkeit, so dass der Film damals selbst in der BRD bessere Rezensionen als der zeitgleich in der BRD produzierte Film zur Reformation erhielt. Insgesamt leiden die westdeutschen Filme mehr an evangelischer Erbauung als der Film der DDR etwa an einer Heroisierung Müntzers. Die Abwicklung der Müntzerforschung nach 1990 und damit die Reduktion von Konkurrenz und Dialog in der Reformationsforschung zeigt sich im populären Bereich des historischen Films durch einen Absturz des Niveaus. So betreibt der monumentale Kinofilm zu Luther von 2003 ohne jede Rücksicht auf historische Treue evangelische Erbauung.
Der letzte Hauptvortrag von Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer widmete sich dem Spannungsverhältnis von Einheitsanspruch und Pluralitätsbedürfnissen in der Reformationszeit am Beispiel von Andreas Gronewalt. Der Notar und Kleriker Gronewalt (* um 1480) hatte eine umfassende, gemischte Bibliothek aus den Bereichen Artes, Humanismus, weltliches und kanonisches Recht, Theologisch-praktische Bücher, Erbauungsliteratur und Medizin. Dabei handelt es sich um vorreformatorisch-scholastische Bücher, altgläubige und reformatorische Kontroversliteratur sowie Schriften von Andreas Bodenstein (1486-1541), Thomas Müntzer (vor 1491-1525) und anderen Zeitgenossen. Entsprechend vielfältig und konfessionell ungebunden waren seine Sichtweisen. Ein von ihm in einem Buch notierter Wahlspruch lautet: „Pflücke die Trauben, die Dornen meide“. Entsprechend ging er mit Büchern und mit religiösen Einstellungen um. Das heutige Wissen von seinen Einstellungen kann durch die Analyse seiner zahlreichen Glossen in seinen Büchern erweitert werden. Sie zeigen einen pragmatischen und lebensfrohen Menschen („Lebe, lasse es Dir gut gehen, sei froh und sei Andreas gewogen.“), der den Kirchenvater Hieronymus verehrt („Hieronymus, Hieronymus. Die Wiederholung deines Namens ist ein Zeichen der Liebe …“), Wert auf humanistische Bildung legt („Tugend überlebt das Begräbnis“; „Erasmus, ein Deutscher, hat die lateinische Übersetzung [die Vulgata] verbessert … Ewiges Lob …“) und nicht viel von der beginnenden Reformation hielt („ein gewisser Mönch Martin Luther, Augustiner“), aber auch nichts vom Mönchtum („Platter Mann [Mann mit Tonsur; Mönch] armer Mann, hätte er noch so gute Kleider an“). So pflegt er z. B. Heiligenkritik („Oh heiliger Antonio, groß, schütze mich …“ korrigiert er in „Oh Jesu, schütze mich …“). Insgesamt zeigt Gronewalt im Zeitalter rivalisierender Deutungsmächte das Lebensmodell, durch begrenzte Teilhabe an der öffentlichen, von den Mächten kontrollierter Religion, nicht aufzufallen, und so umso mehr im privaten Bereich die wirklichen Interessen leben zu können. Nachdem die aufkommende Reformationszeit zunächst viele „Märtyrer“ produzierte, wird das bei Gronewalt beobachtbare Lebensmodell einer Art verborgenem Dissidentismus unter konfessionell Abweichenden zunehmend bedeutsam und herrscht spätestens im 17. Jahrhundert in lutherischen Bereichen vor.
In einem von Dr. Volker Mueller geleiteten abschließenden Forum lobte der wissenschaftliche Tagungsleiter Prof. Bubenheimer das große Interesse und die Diskussionskultur der Teilnehmer und den Ertrag der Tagung, jedenfalls für ihn selbst. Fauth sprach von einer ausbalancierten Tagung mit einer angemessenen Mischung aus historischen Inhalten und Aktualbezügen bzw. kleinteiligen Erkenntnissen und Überblicken.
Dieter Fauth
Mitgliederversammlung der Freien Akademie tagte
Auf der Mitgliederversammlung 2016 der Freien Akademie e.V. wurden die bisherigen und künftigen Aufgabender konfessionell unabhängigen Bildungsinstitution beraten. Die Freie Akademie wird ihre erfolgreiche wissenschaftliche und vor allem interdisziplinär angelegte Arbeit weiterführen und für alle Interessenten gute Angebote zu unterbreiten. Dabei stehen die wissenschaftlichen Tagungen, die Herausgabe der Schriftenreihe der Freien Akademie, eigene Arbeiten zur frühen Geschichte der Freien Akademie und eine gute Öffentlichkeitsarbeit im Vordergrund.
Wichtige Überlegungen zur weiteren Finanzierung der Arbeit der Freien Akademie wurden ebenfalls offen erörtert. Dabei wurden Weichen für einen nachhaltigen Einsatz unserer vorhandenen Ressourcen gestellt.
Das Präsidiumwurde planmäßig gewählt: Als Präsident der Freien Akademie wurde Dr. Volker Mueller (Falkensee) wiedergewählt. Weitere Präsidiumsmitglieder wurden als Vizepräsidenten Dr. Dieter Fauth (Würzburg) und Dr. Martin Scheele (Brieselang), als Schatzmeisterin Tina Bär (Berlin) und als weitere Präsidiumsmitglieder Winfried Zöllner (Berlin) und Christian Michelsen (Falkensee).
Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit
Die Jahrestagung 2016 der Freien Akademie wurde vom 5.-8. Mai 2016 auf der Frankenakademie Schloss Schney bei Lichtenfels (Oberfranken) zum Thema Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit veranstaltet. 35 Teilnehmer hörten sieben Hauptreferate, erlebten originale Lutherstätten auf einer Exkursion nach Coburg und tauschten sich in Gesprächskreisen aus. Die wissenschaftliche Leitung der Tagung oblag dem Kirchenhistoriker Professor Dr. Ulrich Bubenheimer.
Freilich war schon vor Beginn der Tagung klar, dass ein Hauptreferat zur systematischen Einordnung der Hauptbegriffe Deutungsmacht und Pluralismus wegen Krankheit der Referentin und ein weiteres Hauptreferat zur katholischen Perspektive auf die Thematik mangels einer ReferentIn fehlten. Trotzdem konnten sich alle auf ein thematisch breit gespanntes Angebot freuen.
Beim Eröffnungsforum der Tagung gingen die Versammelten der Frage nach, wer denn mit welcher Legitimation in der Reformationszeit (1517-1555) die Macht beanspruchte, religiöse Texte und religiöse Handlungen zu interpretieren. Und was denn mit den Personen ist, die sich solchen Ansprüchen nicht unterwerfen wollten. Man weiß heute, dass es damals schon das Bedürfnis nach Subjektivität der Religiosität gab. Doch war der Spielraum hierzu während der Reformationszeit geringer als davor im Mittelalter. Das lag an der auf Kontroverse angelegten Gesamtlage der Zeit. Durch den reformatorischen Druck wurde auch im altgläubigen (Begriff für die Zeit vor 1555) bzw. im katholischen Bereich eine Einengung erzeugt, die sich dann im 19. Jahrhundert im Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ballt. Seit dem hohen Mittelalter haben diese Einengung vor allem die Dominikaner betrieben, die auch die heftigsten Gegner von Martin Luther (1483-1546) waren. Die Geschichte der protestantischen Kirchen war von Anfang an von extremer Intoleranz geprägt, so dass die evangelischen Amtskirchen bis heute aufs Ganze gesehen unter einem Pluralismusdefizit leiden. Tag für Tag veranschaulichen sie bis heute die These von Ernst Troeltsch, dass dissidente protestantische Bewegungen weiter in die Moderne führten und führen als die lutherische Konfession. Die Diskussion über all diese Sichtweisen zeigte deutlich ein Interesse der Versammelten auch an der Bedeutsamkeit des historischen Geschehens für unsere heutige Gesellschaft, die labil und fragil zwischen dem Postulat radikaler Offenheit und den Rufen nach Minimalkonsens und Leitkultur schillert.
Im ersten Hauptvortrag sprach Dr. Alejandro Zorzin über die Anfänge der Bildpolemik zwischen den religiösen Parteien der Reformationszeit. Mit Flugblättern und Flugschriften als neuem Massenmedium rangen die Parteiungen um die Deutungsmacht in religiösen Belangen und betrieben eine schonungslose mediale Demontage des Anderen, die dem ‚shitstorm‘ in heutigen online-Foren in nichts nachstand. Diese Unkultur haben die Kontroverstheologen der Reformationszeit nicht erfunden. Im sog. Reuchlinstreit (um 1508) nahm der Hebraist und Humanist Johannes Reuchlin (1455-1522) mit Unterstützung des Humanisten Ulrich von Hutten (1488-1523) den Antijudaismus der altgläubigen Theologen aufs Korn. Aberglaube, Unbildung, Unwissenheit und Neid hätten die obskuren Gestalten der altgläubigen Kirche („Dunkelmänner“) verblendet, was der Humanist auch in einem setting der klassischen Antike vom römischen Triumphzug ausdrückte, in dem ein Wagen mit Humanisten geradewegs durch das Tor des Triumphs, ein anderer aber in die entgegengesetzte Richtung in den Höllenschlund fuhr. Vorne in der Bildmitte liegt dabei der konvertierte Jude und daher besonderer Judenfeind Johannes Pfefferkorn (1469-1521) in seinem Erbrochenen, das von Hunden aufgeleckt wird. Die Gegenpartei ließ sich nicht lumpen und zeigt auf einem weiteren Flugblatt in einer Hinrichtungsphantasie Reuchlin nackt, abgeschlachtet und zur Enthauptung bereitet.
Diese Atmosphäre der verhärteten Fronten und der äußersten Brutalisierung wurde von Anfang an für die beginnende Reformation (ab 1517) prägend. Schon wegen dieser prozessualen Geschichtsentwicklung ist es müßig, von einer Epoche der Reformationszeit zu sprechen. Auch die reformatorisch-katholische Bildpolemik bedient sich eifrig der Animalisierung des Gegners und ist an Fäkal- und Obszöndarstellungen kaum überbietbar. Schon in der Bannandrohung wird Luther gut biblisch als wildes Schwein bezeichnet, das den Weinberg des Herrn verwüstet. Auch die reformatorische Seite sieht den altgläubigen Kontroverstheologen Johannes Eck (1486-1543) als wilden Eber, der vom Papst Bucheckern, sprich Geld, erhält, wenn er den Luther platt macht. Zorzin weiß in beeindruckender Weise alle Fassetten dieser shitstorms anhand frühneuzeitlicher Holzschnitte, die heute zugleich wertvollste Kunstwerke darstellen, zu entfalten. Diese Bildpolemik, gelegentlich mit deutschen und lateinischen Texten versehen, hatte eine doppelte Zielgruppe, nämlich sowohl Gebildete als auch Fürsten und Stadtbürger. In einem kommunikativen Prozess erreichten sie dann auch niedere Schichten und konnten auch Analphabeten klar machen, wer hier die Guten und die Bösen seien. Insofern hat das Bild umfassendere Deutungsmacht als das geschriebene Wort.
Dann zeigte Dr. Dieter Fauth an den Sichtweisen Johannes Reuchlins auf das Judentum, dass zur Reformationszeit Deutungsmacht auch vernunftgeleitet geteilt werden konnte. Reuchlin war hier das positive Gegenbild zu Luther. 1523 instrumentalisierte Luther den Juden für seine Polemik gegen die altgläubige Kirche; 1543 forderte er die Fürsten und Herren dann zur massenhaften Vernichtung der Juden in ihrer Existenz auf. Reuchlin aber war der Überzeugung, dass das Judentum die volle religiöse Wahrheit umfasse. Freilich meinte er – hier de facto antijudaistisch –, dass diese Wahrheit erst durch das Christentum klar und offenbar geworden sei. Im Streit mit Pfefferkorn wird deutlich, dass Reuchlin das gesamte jüdische Schrifttum wertschätzte. Immerhin konnte er mit dieser Meinung von 1510 die jüdischen Schriften im Reich deutscher Nationen für mehr als 40 Jahre vor der Vernichtung schützen. Hierbei argumentierte er juristisch, philosophisch und philologisch und kann daher unter die Voraufklärer gereiht werden. Die Aufklärung war dann ein Türöffner für die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts und das damalige Postulat von der Gleichheit aller Menschen. Doch hat die Aufklärung mit vielen antijudaistischen Standpunkten sog. aufgeklärter Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts in Philologie, Theologie, Philosophie und Soziologie den Antijudaismus wissenschaftlich verbrämt auch weiter getragen.
Prof. Dr. Hartmut Bobzin sprach sodann über Perspektiven auf Islam und Muslime in der Reformationszeit. In dieser Zeit dehnte sich der Islam geografisch enorm aus. Konnte er 1453 Konstantinopel (Istanbul) erobern, stand er 1529 zum ersten Mal und 1683 zum zweiten Mal vor Wien. Diese Bedrohung des christlichen Europa durch den Islam band bei den Habsburgern und den Fürstentümern viel Geld und militärische Kräfte, was das Agieren Luthers und der weiteren Reformatoren im Inneren des Reiches erleichterte. So wurde der Islam ungewollt zum Geburtshelfer des Protestantismus. Intellektuell hat sich aber für den Islam im 16. Jahrhundert noch niemand interessiert – ganz im Unterschied zum Interesse am Judentum. Einschlägige Ansätze zeigte nur Sebastian Münster. Doch gibt es Schriften des 16. Jahrhunderts, die sagen, dass islamische Staatengebilde genau so vorbildlich sind wie z. B. das venezianische Reich.
In einem weiteren Hauptvortrag betonte Prof. Dr. Günter Vogler zu der Frage: Ist die marxistische Deutung der Reformation überholt? – Versuch einer Antwort am Beispiel des Thomas-Müntzer-Bildes, dass seit dem 19. Jahrhundert sowohl die Reformation als auch der Bauernkrieg wiederholt als Revolution bezeichnet wurden. Angesichts der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kritisierten Vernachlässigung der historischen Verortung der Reformation zugunsten einer einseitig theologischen Interpretation, sahen marxistische Historiker sich herausgefordert, den Revolutionsbegriff für die frühe Neuzeit zu konkretisieren. Das fand seinen Niederschlag in dem die Wechselbeziehungen zwischen Reformation und Bauernkrieg betonenden Konzept, sie als frühe Form einer bürgerlichen Revolution darzustellen. In diesem Zusammenhang erfuhr auch das Müntzerbild einschneidende Veränderungen, indem ältere säkularisierte Sichten überwunden und Müntzer primär als radikaler Prediger und Seelsorger verstanden wurde. Das war möglich, weil die Müntzerforschung in der DDR zunehmend mit Historikern und Theologen in der BRD und in anderen Ländern kooperierte. Doch mit dem Ende der DDR verlor die marxistische Forschung ihren institutionellen Rückhalt im universitären Raum, und das Konzept einer frühen bürgerlichen Revolution wurde als Diskussionsthema ausgeblendet, obwohl damit relevant gewordene Fragen nicht in jedem Fall abgegolten waren. Viele zum Müntzerbild gewonnene Erkenntnisse erwiesen sich indes als nicht überholt. Auch bleibt es bedenkenswert, dass Müntzer uns darauf hinweist, dass es in der Geschichte immer Alternativen gibt und eine Gesellschaft, die Visionen verwirft, in reinen Pragmatismus versinkt. An sein Streben nach Brüderlichkeit und Gleichheit sollte deshalb immer wieder erinnert werden.
Fabian Scheidler sprach sodann über die Entstehung des modernen Weltsystems und die Zerschlagung egalitärer Bewegungen in der Reformationszeit. In der Reformationszeit wurde das kapitalistische Weltsystem, in dem wir noch heute leben, begründet und dies im Widerstand gegen egalitäre Bewegungen. Dieses Weltsystem stellte sich als enorm dynamisch und produktiv, zugleich aber auch als extrem destruktiv heraus. Völkermorde, Vertreibung, Kulturvernichtung, Naturzerstörung, Kriege, Spaltung zwischen Arm und Reich, globale Krisen sind die Folge. In Reformation und Humanismus hochgehaltene Heilsbringer, wie Glaube oder Zivilisation, Vernunft, Fortschritt und Entwicklung sind nur Mythen der Moderne aus der klassischen Antike. Wir begründen unseren Wohlstand mit diesen Kräften. Stattdessen wirken hier die Monster der Moderne, nämlich Inquisition, Hexenprozesse, Folter, Blutgesetzgebung, ökonomische Spaltung und Entrechtung der Frauen. Es ist ein Mythos, dies seien Erscheinungen des Mittelalters. Vielmehr sind Reformation und frühe Neuzeit die Epoche dieser Monster. Durch sie wurden egalitäre Bewegungen, veranlasst durch Armutsbewegungen im Mittelalter (Franz von Assisi, Joachim von Fiore), wie sie sich nach dem ‚großen Hunger‘ (1315-22) und der Pest (1348) gebildet hatten, zerschlagen. In der Reformationszeit kamen Kirchengüter in die Hand der Landesherren (Luther!), nicht der Kommunen (Müntzer!). Die obrigkeitliche, autoritäre statt der egalitären Struktur setzt sich durch. Nach der Zerschlagung egalitärer Strukturen im Bauernkrieg 1524/25 und der Täuferbewegung 1535, war die egalitäre Bewegung in Deutschland, aber auch in Frankreich und England, über Jahrhunderte zerstört. Bis heute ist dieses Weltsystem in der Krise, besonders als eine Krise der Biosphäre.
Der Hauptvortrag von Prof. Dr. Dieter B. Herrmann zeigte, wie die Entdeckung des heleozentrischen Weltbildes durch Luthers Zeitgenossen Nikolaus Kopernikus (1473-1543) eine radikale Wende in der Astrophysik bedeutete. Kopernikus kam 1510 zu seiner Entdeckung, konnte sie aber wegen Arbeitsüberlastung erst 1543 differenziert veröffentlichen. Weder die katholische Kirche noch der Protestantismus hatten zur Reformationszeit ein Problem mit dieser Entdeckung. Georg J. Rheticus (1514-1574) im katholischen Bereich und Andreas Osiander (1498-1552) im evangelischen Bereich beförderten Drucklegungen von Kopernikus‘ Werk, das dadurch geschützt wurde, dass es von Osiander als Hypothese bezeichnet wird. Kopernikus machte Papst Paul III sein Buch mit dem Argument schmackhaft, dass damit auch der Kirchenkalender, insbesondere der jährliche Ostertermin, genauer bestimmt werden könne. So musste Kopernikus keine Angst vor der Inquisition haben, die zu dieser Zeit keine Rolle spielte. Auch Philipp Melanchthon (1497-1560), der wegen Jos 10,12-13 („Befiehl der Sonne still zu stehen“) seine Zweifel an der Heleozentrik hatte, blieb gegenüber Kopernikus respektvoll. Luther hatte kein Interesse an der Entdeckung des Kopernikus; die Schrift von 1543 kam für Luther auch zu spät. – Ganz im Unterschied zu seiner Sicht auf die Astronomie war Melanchthon ein großer Anhänger der Astrologie. Sterne waren für ihn Anzeiger des göttlichen Willens. Man sehe ja, dass Sonne und Mond das Erdgeschehen beeinflussen; warum also nicht alle Gestirne. In diesem Tenor hielt Melanchthon manche Vorlesungen. Luther lehnte die Astrologie ab. Nicht die Gestirne, sondern ihr Schöpfer würde das Erdgeschehen bestimmen. Auch Kopernikus hielt von Astrologie nichts. Und auch der damalige Papst Sixtus V (1521-1590) war ein Gegner der Astrologie. – Nachdem die Reformationszeit keine Beanstandung an Kopernikus genommen hatte, kam sein Werk 1616 bis 1838 auf den katholischen Index. Galilei musste wegen der Heleozentrik einen inquisitorischen Prozess erdulden (1632). Das heißt, die katholische Kirche hat erst lange nach dem Tod von Kopernikus die mögliche Bedrohung ihrer Macht durch dieses Weltbild gesehen. Heute wird ein Unterschied zwischen geoffenbarten Wahrheiten der Bibel und erforschten Fakten der Astronomie gesehen. Beide Bereiche kommen zu Aussagen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und sich daher nicht widersprechen können. Dies sah bereits Kopernikus so.
Ein von Dr. Dieter Fauth gestalteter Abend mit Filmen zur Reformationszeit zeigte, wie sich Ergebnisse des Vortrages Vogler zur marxistischen Müntzerforschung im wissenschaftsfernen Bereich der populären Filme widerspiegelt. Ein monumentaler Reformationsfilm der DDR von 1983 zeigt einen hohen Grad an Sachlichkeit und überparteilicher Verträglichkeit, so dass der Film damals selbst in der BRD bessere Rezensionen als der zeitgleich in der BRD produzierte Film zur Reformation erhielt. Insgesamt leiden die westdeutschen Filme mehr an evangelischer Erbauung als der Film der DDR etwa an einer Heroisierung Müntzers. Die Abwicklung der Müntzerforschung nach 1990 und damit die Reduktion von Konkurrenz und Dialog in der Reformationsforschung zeigt sich im populären Bereich des historischen Films durch einen Absturz des Niveaus. So betreibt der monumentale Kinofilm zu Luther von 2003 ohne jede Rücksicht auf historische Treue evangelische Erbauung.
Der letzte Hauptvortrag von Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer widmete sich dem Spannungsverhältnis von Einheitsanspruch und Pluralitätsbedürfnissen in der Reformationszeit am Beispiel von Andreas Gronewalt. Der Notar und Kleriker Gronewalt (* um 1480) hatte eine umfassende, gemischte Bibliothek aus den Bereichen Artes, Humanismus, weltliches und kanonisches Recht, Theologisch-praktische Bücher, Erbauungsliteratur und Medizin. Dabei handelt es sich um vorreformatorisch-scholastische Bücher, altgläubige und reformatorische Kontroversliteratur sowie Schriften von Andreas Bodenstein (1486-1541), Thomas Müntzer (vor 1491-1525) und anderen Zeitgenossen. Entsprechend vielfältig und konfessionell ungebunden waren seine Sichtweisen. Ein von ihm in einem Buch notierter Wahlspruch lautet: „Pflücke die Trauben, die Dornen meide“. Entsprechend ging er mit Büchern und mit religiösen Einstellungen um. Das heutige Wissen von seinen Einstellungen kann durch die Analyse seiner zahlreichen Glossen in seinen Büchern erweitert werden. Sie zeigen einen pragmatischen und lebensfrohen Menschen („Lebe, lasse es Dir gut gehen, sei froh und sei Andreas gewogen.“), der den Kirchenvater Hieronymus verehrt („Hieronymus, Hieronymus. Die Wiederholung deines Namens ist ein Zeichen der Liebe …“), Wert auf humanistische Bildung legt („Tugend überlebt das Begräbnis“; „Erasmus, ein Deutscher, hat die lateinische Übersetzung [die Vulgata] verbessert … Ewiges Lob …“) und nicht viel von der beginnenden Reformation hielt („ein gewisser Mönch Martin Luther, Augustiner“), aber auch nichts vom Mönchtum („Platter Mann [Mann mit Tonsur; Mönch] armer Mann, hätte er noch so gute Kleider an“). So pflegt er z. B. Heiligenkritik („Oh heiliger Antonio, groß, schütze mich …“ korrigiert er in „Oh Jesu, schütze mich …“). Insgesamt zeigt Gronewalt im Zeitalter rivalisierender Deutungsmächte das Lebensmodell, durch begrenzte Teilhabe an der öffentlichen, von den Mächten kontrollierter Religion, nicht aufzufallen, und so umso mehr im privaten Bereich die wirklichen Interessen leben zu können. Nachdem die aufkommende Reformationszeit zunächst viele „Märtyrer“ produzierte, wird das bei Gronewalt beobachtbare Lebensmodell einer Art verborgenem Dissidentismus unter konfessionell Abweichenden zunehmend bedeutsam und herrscht spätestens im 17. Jahrhundert in lutherischen Bereichen vor.
In einem von Dr. Volker Mueller geleiteten abschließenden Forum lobte der wissenschaftliche Tagungsleiter Prof. Bubenheimer das große Interesse und die Diskussionskultur der Teilnehmer und den Ertrag der Tagung, jedenfalls für ihn selbst. Fauth sprach von einer ausbalancierten Tagung mit einer angemessenen Mischung aus historischen Inhalten und Aktualbezügen bzw. kleinteiligen Erkenntnissen und Überblicken.
Dieter Fauth
Ankündigung
der wissenschaftlichen Tagung der FA vom 5. bis 8. Mai 2016
Die Freie Akademie wird ihre Tagung im Jahr 2016 wieder in der Frankenakademie Schloss Schney durchführen. Während der Tagung vom 5. bis 8. Mai 2016 werden wir im Rahmen von Vorträgen, Arbeitsgruppen und Diskussionsbeiträgen das Thema
„Religiöser Pluralismus und Deutungsmacht in der Reformationszeit“
behandeln. Damit wird ein Beitrag zur Vorbereitung des Luther-Jahres 2017 geleistet.
Mit der Entstehung neuer religiöser Deutungskonzepte in der Reformationszeit und deren Institutionalisierung in Konfessionskirchen verschärfte sich die Spannung zwischen religiösen Einheitsansprüchen und zunehmender religiöser Pluralität. Reformatoren wie Luther oder Calvin beanspruchten Deutungsmacht über die Bibelauslegung und setzten sie der Deutungshoheit der hergebrachten kirchlichen Institutionen entgegen. Indem sich Landes- und Stadtobrigkeiten bestimmte Deutungskonzepte zu eigen machten, konnten sie den zuvor schon im Gang befindlichen Ausbau eines landesherrlichen Kirchenregiments nachhaltig steigern. Gleichzeitig wirkte diese Entwicklung als Impuls zur weiteren Pluralisierung inner- und außerhalb der Konfessionen und strahlte auch auf andere Bereiche wie die Entwicklung der Kunst, des Rechts und der Naturwissenschaften aus. Individuelle Religion differenzierte sich in ein öffentliches Bekenntnis und eine privat gelebte religiöse Praxis.
Die Hauptvorträge dieser Tagung bedenken diese in der Reformationszeit aufbrechende Spannung zwischen den Bedürfnissen nach weltanschaulicher Einheit und nach Pluralität. Noch heute kommt diese Spannung z.B. einerseits in den Rufen nach „Minimalkonsens“ und „Wertegemeinschaft“ und andererseits in dem Bedürfnis nach Weltanschauungs- und Religionsfreiheit zum Ausdruck. Auf der Tagung thematisiert wird das Ringen in diesem Spannungsfeld (1) im Allgemeinen sowie bezogen auf (2) die katholische und evangelische Konfession, (3) die Sicht auf Juden und Judentum, (4) den Umgang des christlichen Abendlandes mit dem Islam, (5) die Rivalität zwischen kapitalistischen Monopolen und egalitären Wirtschaftsformen, (6) das angemessene naturwissenschaftliche Verständnis des Kosmos, (7) die persönliche Orientierung und Lebensführung ausgewählter Personen der ersten Hälfte 16. Jahrhunderts und (8) die heute angemessene Sicht auf die Reformationszeit.
Mit unserer Tagung möchten wir das Geschichts- und Demokratiebewusstsein fördern und das Verständnis für Toleranz und Freiheit stärken. Dabei werden wir - für unsere Gegenwart bedeutsame - Daseins- und Wertefragen interdisziplinär erörtern.
Seien Sie herzlich willkommen vom 5. bis 8. Mai 2016 in Schloss Schney, bei Lichtenfels. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme an unserer sicherlich spannenden Tagung.
Dr. Volker Mueller
Präsident der Freien Akademie
Prof. Dr. Ulrich Bubenheimer
Wissenschaftlicher Tagungsleiter 2016
Freie Akademie e.V., 14612 Falkensee, Holbeinstr. 61.
Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Wissenschaftliche Tagung 2015: Die Evolution des Kosmos
Bericht über die Wissenschaftliche Tagung der Freien Akademie 2015
In der Zeit vom 14. bis 17. Mai 2015 fand im pentahotel Berlin-Potsdam in Teltow die Wissenschaftliche Tagung der Freien Akademie zum Thema
Die Evolution des Kosmos. Fakten – Vermutungen – Rätsel.
statt. Unter der Tagungsleitung von Prof. Dr. Dieter B. Herrmann, langjähriger Direktor der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow, hatten sich ca. 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingefunden. Die Tagung wurde durch den Präsidenten der Freien Akademie, Herrn Dr. Volker Mueller, mit einem historischen Rückblick eröffnet. Er verwies auf die Bedeutung der Arbeiten von Kant, Laplace und Herschel für den Gedanken eines sich evolutionär verhaltenen Kosmos, eine notwendige Interdisziplinarität und die Verbindung von philosophischer Ethik und Naturwissenschaften.
Prof. Dr. Dieter B. Herrmann sprach einführend zum Thema 'Auf der Suche nach dem Ursprung des Universums'. Eingangs verwies der Vortragende auf die Voraussetzung der Astrophysik, die universelle Gültigkeit der Naturgesetze. Nur unter dieser Voraussetzung lassen Experimente im irdischen Labor Schlussfolgerungen für die Entwicklung im Kosmos zu. Prof. Herrmann gab einen historischen Abriss der Entstehung der Urknall-Theorie. Ausgangspunkt war die Entdeckung der Rotverschiebung von Spektren ferner Sternsysteme durch den amerikanischen Astronom Edwin Hubble Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der russisch-amerikanische Physiker George Gamow leitete aus dieser astronomischen Entdeckung die Hypothese des Urknalls ab. Eine der Folgerungen dieser Theorie ist die 3 Kelvin Strahlung, die den kosmischen Raum ausfüllt. Im Zuge der Expansion des Kosmos sank die Temperatur von 1032 K auf die heutige Temperatur von rund 3 K. Die amerikanischen Physiker Penzias und Wilson entdeckten 1965 die von Gamow vorausgesagte 3 K Strahlung. Anschließend wandte sich Prof. Herrmann der Elementarteichentheorie zu. Er gab einen Überblick zu den zwischen den Elementarteilchen herrschenden Wechselwirkungskräften. Des weiteren erläuterte er die Bedeutung des Higgs Boson und seine Entdeckung im Jahre 2012. Der nächste Punkt des Vortrages war die Herausbildung dieser verschiedenen Wechselwirkungskräfte im zeitlichen Verlauf der Entstehung des Weltalls. Die damit verbundenen Theorien, wie die Existenz supersymmetrischer Teilchen oder die Stringtheorie, sind experimentell noch nicht bestätigt. Abschließend erläuterte Prof. Herrmann, welche Bedeutung die Experimente mit dem Large Hadron Collider (LHC) in Genf für die Urknalltheorie in Zukunft besitzen werden.
Am Vormittag des 15. Mai hielt Herr Dr. Christian Spiering einen Vortrag zu dem Thema 'Dunkle Materie im Universum – ein Dauerrätsel?'. Der Vortragende arbeitet als Elementarteilchenphysiker am DESY in Zeuthen. Von 2002 bis 2005 war Dr. Spiering Sprecher des Hochenergie-Neutrino-Observatorium Ice-Cube. Zu Beginn seines Vortrages gab Dr. Spiering einen Überblick über die astronomischen Beobachtungen, die zu der Annahme führten, dass unsichtbare Materie unseren Kosmos ausfüllt. 1932 stellte der Schweizer Physiker Fritz Zwicky fest, dass ferne Galaxienhaufen nicht durch die Gravitationskraft der sichtbaren Materie zusammen gehalten werden können. Seit 1964 untersuchte die amerikanische Physikerin Vera Rubin die Umlaufgeschwindigkeiten von Sternen im Außenbereich von Galaxien. Dabei konnte sie eine Verletzung des dritten Keplerschen Gesetzes nachweisen. Dies führte zu der Annahme, dass im Kosmos dunkle Materie existieren muss. Diese kann nicht, wie der Vortragende erläuterte, aus normaler Materie, z.B. Protonen und Neutronen, bestehen. Dr. Spiering stellte die aktuellen Modelle für die unbekannte dunkle Materie, die im Vergleich zur normalen Materie fünfmal so häufig im Kosmos vorkommen muss, vor. Dazu zählen die supersymmetrischen Teilchen (SUSY) und die MACHOs, Sterne, in deren Innern keine Kernfusion stattfindet. Letztere konnten dank ihrer Gravitationslinsenwirkung nachgewiesen werden, nur ihre Häufigkeit ist um Größenordnung zu gering, um in summa die Wirkung der dunklen Materie erklären zu können. Gegenwärtig vermutet man, dass sogenannte WIMP (weakly interacting massive particles) Teilchen die dunkle Materie bilden. Auf der Suche nach den WIMP Teilchen unterscheidet man in die direkte und die indirekte Methode. Ausführlich behandelte Dr. Spiering eine indirekte Methode, nämlich die nach der Suche hochenergetischer Neutrinos. Diese müssten sich bilden, wenn viele WIMP Teilchen durch große Massen, wie unsere Sonne, eingefangen werden, im Zentrum der Sonne zusammenstoßen und dabei hochenergetische Neutrinos erzeugen. Mit Hilfe des Hochenergie-Neutrino-Observatoriums Ice-Cube sollen diese Neutrinos nachgewiesen werden. Ice-Cube befindet sich in der Antarktis. Die von den Neutrinos erzeugten Lichtteilchen werden von tief im Eis befindlichen optischen Sensoren erfasst und ihre Energie gemessen. 2013 wurden zwei Ereignisse experimentell nachgewiesen, die von hochenergetischen Neutrinos hervorgerufen wurden. In seinem Ausblick stellte Dr. Spiering fest, dass die nächsten 10 Jahre, auch durch die Arbeiten am CERN, die Entscheidung bringen werden, welcher Natur die dunkle Materie ist.
Prof. Dr. Matthias Steinmetz, Wissenschaftlicher Vorstand am Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP), sprach zum Thema: Dunkle Energie und die beschleunigte Expansion des Universums. Prof. Steinmetz stellte an den Anfang seines Vortrages die Einsteinsche Gravitationsgleichung, die vor 100 Jahren Eingang in die Wissenschaft fand. Er erläuterte die Voraussetzung der kosmologischen Forschung, die Isotropie und Homogenität des Raumes in großen Skalen. Die Folge ist, dass sowohl in der Newtonschen Kosmologie als auch in der Einsteinschen (Allgemeine Relativitätstheorie) ein anfänglich statisches Universum durch die Wirkung der Schwerkraft kollabiert. Dieses Ergebnis seiner Theorie wollte Einstein durch Einführung kosmischer Konstanten umgehen. Der russische Physiker Friedmann korrigierte Einstein und bewies, dass ein sich ausdehnendes homogenes und isotropes Universum eine Lösung der Einsteinschen Feldgleichungen ist. Die Entdeckung der Rotverschiebung durch Hubble stützte die Friedmannsche Aussage. Nach der Entdeckung der Rotverschiebung war die der 3 K Strahlung die bedeutendste. Diese Hintergrundstrahlung ist bis auf einen Fehler von 400 s die eines schwarzen Körpers mit der Temperatur 3 K. Prof. Steinmetz wies darauf hin, dass dieses Ergebnis der Kosmologie, d.h. der großen Skalen die beste Bestätigung der Planckschen Quantenmechanik ist. Die Geometrie des Kosmos hängt von der mittleren Dichte des Universums ab. Die Inventarisierung des Kosmos ergab, dass diese nur 1% beträgt. Die Beobachtungen von Zwicky legten die Existenz einer unbekannten dunklen Materie nahe, so dass die Dichte 30% erreicht. Die Entfernungs- und Geschwindigkeitsmessung ferner Supernovae, sie beschleunigten sich stärker als erwartet, führte nach bis dahin gängiger Theorie zu einer negativen Gesamtmasse des Universum. Nun erfuhren die Einsteinschen Gravitationskonstanten eine Rehabilitation. Mit ihrer Hilfe konnten die Beschleunigungen der Supernavae modelliert werden. Anschaulich gesprochen ist das Universum ausgefüllt mit einer zurzeit nicht identifizierbaren (dunklen) Energie, welche das Universum auseinander drückt. Demnach besteht unser Universum zu 60% aus dunkler Energie. Prof. Steinmetz gab einen Überblick über die Erklärungsversuche, was dunkle Energie sein könnte. Nach heutigem Stand der Erkenntnis, sind 95% des Kosmos von mysteriöser Natur, 99 % ist unsichtbar. Alle Komponenten des Kosmos haben dieselbe Größenordnung, was in der Vergangenheit nie der Fall war und auch in Zukunft nicht der Fall sein wird. Dennoch können mit dem Modell der unsichtbaren Masse und der unsichtbaren Energie detaillierte Vorhersagen über den Zustand des Universums erreicht werden. Dabei spielt die 'Klanganalyse' der Mikrowellenhintergrundstrahlung ( 3 K - Strahlung) methodisch eine große Bedeutung. Kosmische Konstanten, wie z.B. die Krümmungskonstante des Universums können so bestimmt werden. Eindrucksvoll konnte Prof. Steinmetz animierte Simulationen der Entwicklung des Kosmos zeigen, die auf dem Standardmodell beruhen. Für die Untersuchung der dunklen Energie, insbesondere ihre zeitliche Veränderung, wird in naher Zukunft das integrale Feldspektrometer VIRUS den nahen und den fernen Kosmos spektroskopisch untersuchen.
Am Nachmittag des 15. Mai stand eine Exkursion auf dem Programm der Tagung. Ziel dieser Exkursion war das Leibniz-Institut für Astrophysik auf dem Telegrafenberg in Potsdam. Die Führung durch dieses Wissenschaftsareal übernahm Prof. Dr. Dierck-Ekkehard Liebscher. Der erste Anlaufpunkt war der Doppellinsenrefraktor, der 1899 als einer der größten seiner Zeit eingeweiht wurde. Die Linsendurchmesser betragen 80 und 50 cm. Die Brennweite liegt bei 12,2 m. Prof. Liebscher erläuterte die prinzipiellen Grenzen, die ein Linsenfernrohr aufweist. Der architektonisch bemerkenswerte Einsteinturm war der zweite Ort der Exkursion. Der Einsteinturm wurde insbesondere durch die Initiative des Physikers Erwin Freundlich in den Jahren 1919 bis 1922 erbaut. Er dient zur spektroskopischen Beobachtung der Sonne. Seinen Abschluss fand die Exkursion in einem Keller des ehemaligen Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam. In diesem unternahm der amerikanische Physiker Albert A. Michelson im Jahre 1881 erste Experimente mit dem von ihm entwickelten Interferometer. Prof. Liebscher wies auf die in der populärwissenschaftlichen Literatur vorhandenen Inkorrektheiten bzgl. der Interpretation dieser Versuche hin.
Am Freitagabend hielt Prof. Dr. Dieter B. Herrmann den Vortrag: Antimaterie. Gibt es Gegenwelten im Universum? Einleitend erläuterte Prof. Herrmann das Rutherfordsche und das Bohrsche Atommodell. Er berichtete, wie der Physiker Dirac zu Beginn der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Rahmen der relativistischen Elektronentheorie auf die Hypothese der Antimaterie kam. Bereits 1931 konnte Carl Davis Anderson das Antiteilchen zum Elektron, Positron genannt, experimentell nachweisen. Auf Grund seiner großen Masse konnte das Antiproton erst 1955 entdeckt werden. Bei der Wechselwirkung von Materie mit Antimaterie entsteht Gammastrahlung, die eine nach der Einsteinschen Energie-Massenäquivalenz entsprechende Energie besitzt. Erste Antiwasserstoffteilchen konnten 1996 im CERN erzeugt werden.
Prof. Herrmann wandte sich dann der Frage nach der Existenz von Antiwelten zu. Dazu erklärte er die Theorie von Hannes Alfen. Diese beinhaltet die Folgen, wenn zwei Galaxien, die aus Materie bzw. aus Antimaterie bestehen, aneinander grenzen. Zwischen den Galaxien würde eine hochenergetische Röntgenstrahlung entstehen. Diese konnte bisher im Universum nicht nachgewiesen werden. Das kosmologische Standardmodell geht davon aus, das unmittelbar nach dem Urknall Materie und Antimaterie gleich häufig vorhanden waren. Ab 380000 Jahre nach dem Urknall fingen die Protonen die Elektronen ein. Man sagt, ab diesem Zeitpunkt wurde das Universum durchsichtig. Ein Modell, dass das nicht Vorhandensein der Antimaterie erklärt, ist das Modell der Majoronen. Diese Superteilchen zerfielen in Neutrinos und Antineutrinos, aber nicht in identisch viele. Diese reagierten mit Elektronen und Positronen, was zur Bildung der Quarks und Antiquarks führte. Die Symmetrie zwischen Protonen und Antiprotonen war leicht verletzt. Auf eine Milliarde Antiprotonen kamen eine Milliarde plus eins Protonen. Bis dahin waren die Elementarteichenphysiker davon ausgegangen, dass die Physik invariant gegenüber Vorzeichenänderung der Ladung und der Spiegelung der räumlichen Koordinaten ist. Die Brechung dieser Symmetrie (CP-Symmetrie) konnte in den letzten Jahrzehnten experimentell nachgewiesen werden. Das bedeutet, dass Materie und Antimaterie keine Spiegelbilder sind. Die Suche nach Antikohlenstoffatomen, sie würden die Existenz von Sternen aus Antimaterie beweisen, blieben bisher erfolglos.
Die Tagung fand am 16. Mai mit dem Vortrag 'Exoplaneten – Auf der Suche nach der zweiten Erde' von Prof. Dr. Joachim Wambsganß, Direktor des Zentrums für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH), seine Fortsetzung. Einleitend sprach Prof. Wambsganz über unser Planetensystem und stellte die gängige Definition für Planeten vor. Eine Planetensuche (Exoplaneten) vor Ort bei den Sonnen in unserer Milchstraße fällt wegen der großen Entfernung aus. Die nächst gelegene Sonne Alpha Centauri ist 4,3 Lichtjahre entfernt und eine Raumsonde bräuchte ca. 140 000 Jahre, um diese Sonne zu erreichen. Für eine direkte Beobachtung von Exoplaneten durch Teleskope ist die geometrische Auflösung der Teleskope auf lange Sicht nicht ausreichend. Der Vortragende ging der Frage nach, wie Exoplaneten gefunden werden können. Er stellte drei Verfahren vor: die Geschwindigkeitsmessung, die Positionsmessung und die Helligkeitsmessung. Die Geschwindigkeitsmessung ist ein spektroskopisches Verfahren und misst den Dopplereffekt des Lichtsignals einer Sonne, der durch die Bewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt von Sonne und Planet hervorgerufen wird. Voraussetzung ist, dass diese Bewegung für den Beobachter in einer horizontalen Ebene stattfindet. Prof. Wambsganß gab für dieses Verfahren eine quantitative Abschätzung an. Sie besagt, dass die relative Veränderung der Wellenlänge des Lichtsignals bei 3 mal 10-8 liegt. Daraus ist die Anforderung an die spektroskopische Messapparatur ablesbar. Bisher wurden mit dieser Methode rund einhundert Exoplaneten gefunden. Die zweite Methode, die Positionsmessung, bedarf der Voraussetzung der ersten Methode, Bewegung in horizontaler Orientierung, nicht. Die Ortsveränderung, hervorgerufen durch den umkreisenden Exoplaneten, der Sonne ist gegenwärtig noch nie gemessen worden. Prof. Wambsganß ist optimistisch, dass mit Hilfe der Raumsonde Gaia in naher Zukunft mit dieser Methode Exoplaneten gefunden werden können. Der dritten Methode liegt die 'Abdunklung' der Sonne, hervorgerufen durch den Planten, der sich periodisch zwischen Sonne und Beobachter bewegt, zu Grunde. Die vierte Methode beruht auf einem Effekt, der durch die Allgemeine Relativitätstheorie begründet wurde. Licht erfährt durch Gravitationsfelder eine Ablenkung. Bewegt sich zwischen Beobachter und Stern ein weiterer Stern, so wird der hintere Stern durch den Gravitationslinseneffekt doppelt abgebildet. Besitz der Stern, der für die Gravitationslinse verantwortlich ist, noch einen Planeten, so wird die Abbildung des Sterns, dessen Licht durch die Gravitationslinse geht, spezifisch verändert. Diese Veränderung weist auf einen Exoplaneten hin. Der erste Exoplanet wurde 1995 mit Hilfe des Dopplereffekts gefunden. Später wurden auch Planetensysteme identifiziert. Nach heutiger Erkenntnis hat im Mittel jeder Stern unserer Milchstraße wenigstens einen Planeten. Es wurden bei 1210 Sternen 1915 Planeten entdeckt. Einige von ihnen sind erdähnlich.
An diese Aussagen konnte Herr Andreas Anton vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg anknüpfen, als er zu dem Thema 'Wenn die Außerirdischen kämen...' sprach. Der Untertitel seines Vortrages lautete: Mögliche kulturelle Konsequenzen eines Erstkontaktes mit dem maximal Fremden. Seine Ausführungen waren in vier Punkten untergliedert. Der erste Punkt beinhaltete einen historischen Abriss zu der Frage, ob wir alleine im Universum sind. Der zweite Punkt widmete sich dem SETI-Programm. Der dritte Gliederungspunkt befasste sich mit den 'Voraussetzungen des Nachdenkens über die Konfrontation der Menschheit mit einer außerirdischen Zivilisation'. Der letzte Punkt des Vortrages enthielt eine Szenario-Analyse. Im ersten Punkt erinnerte Herr Anton, dass schon in der Antike über die Existenz Außerirdischer nachgedacht wurde. Mit dem Siegeszug des heliozentrischen Weltbildes wurde die Frage nach Außerirdischen neu gestellt. Die Entwicklung der Weltraumtechnik intensivierte ebenfalls diese Frage. Herr Anton erläuterte die zu Beginn der 60-ziger Jahre des letzten Jahrhunderts aufgestellte Wahrscheinlichkeitsformel für außerirdische Intelligenz in unserer Milchstraße. Der Autor dieser Formel war der amerikanische Astronom Frank Drake. Zur selben Zeit wurde das SETI-Experiment gestartet. Insbesondere mit Hilfe der Radioastronomie wird in diesem Langzeitexperiment der Weltraum nach Signalen abgescannt, die auf intelligente Absender schließen lassen - bisher ohne positiven Befund.Im Punkt drei seiner Ausführungen erläuterte der Redner den methodologischen Ansatz, wie man bei zukünftigen ungewöhnlichen Ereignissen, wie das Zusammentreffen mit außerirdischer Intelligenz, zu soziologischen Aussagen gelangen kann. Er verwies darauf, dass solche Methodik der Futurologie bereits in der Zeit des kalten Krieges bei der Beschreibung der Folgen eines globalen Atomkrieges zur Anwendung kam. Herr Anton gab die Vorannahmen einer Szenario-Analyse an. Besonders hervorhebenswert war der Punkt, der auf die Vermeidung einer anthropozentrischen Voreingenommenheit hinwies. Es wurden drei Szenarien diskutiert. Das erste Szenario beruhte auf der Annahme, dass der Kontakt zu einer außerirdischen Intelligenz, die in großer Entfernung existiert, hergestellt wird. Hier besteht eine Nähe zum SETI-Experiment. Im zweiten Szenario stoßen die Menschen auf Überbleibsel einer außerirdischen Intelligenz. Beispielhaft behandelt in dem Film „2001“ von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1968. Ein direkter Kontakt ist der Inhalt des dritten Szenario. Hier verwies Herr Anton auf das ungewöhnliche Hörspiel 'War of the Worlds', welches Orson Welles 1938 nach dem Buch 'Krieg der Welten' von H. G. Wells in den USA inszeniert hatte. Die Ausstrahlung dieses Hörspiels, dass die Landung Außerirdischer zum Inhalt hatte, löste ein Massenhysterie aus. In seinem Fazit betonte Herr Anton, dass die Existenz außerirdischen Lebens nicht ausgeschlossen werden kann. Eine Begegnung mit ihr wäre ein epochales Ereignis, welches unser Leben grundlegend verändern würde.
Am Nachmittag des 16. Mai wurden Kurzvorträge offeriert.
Der erste wurde von Herrn Dr. Alexander Warmuth, Mitarbeiter am Leibnitz-Institut für Astrophysik Potsdam, gehalten. Das Thema seines Vortrages lautete: Der Sonne entgegen, Sonnenforschung vom Weltraum aus. Im Gegensatz zu der langfristigen Entwicklung der Sonne, sind die kurzzeitigen Sonnenaktivitäten noch nicht befriedigend physikalisch interpretierbar. Herr Warmuth erklärte, dass in den Sonnenflecken, die schon Galilei beobachtet hatte, Magnetfelder existieren, deren Stärke die der Erde um den Faktor 1000 übertreffen. Diese starken Magnetfelder behindern den Masse- und damit den Energietransport. Letzteres führt zur Abkühlung, die dann als dunkle Flecken wahrgenommen werden. Beobachtungen von Weltraum aus ergaben, dass diese dunklen Flecken Areale höchster Aktivitäten im UV-Bereich sind. Ungeklärt ist heute das Phänomen, dass die Sonnenoberfläche eine Temperatur von 6000°C aufweist, während die Temperatur des Gases der Sonnenkorona 1 000 000°C beträgt. Vorhersagen von Sonnenaktivitäten besitzen für die Luftfahrt, die im starken Maße von Elektronik und Sensorik abhängig ist, immense Bedeutung. Zum Ende seines Vortrages stellte Herr Warmuth den Solar Orbiter vor. Diese nächste europäische Sonnenmission wird 2017 starten. Hervorhebenswert ist dabei ein Röntgenstrahlungsteleskop, an dessen Entwicklung das Institut in Potsdam beteiligt ist.
Den zweiten Kurzvortrag hielt Herr Studienrat Christian Michelsen aus Falkensee. Sein Vortrag hatte den Titel: Die Atomtheorie von Leukipp und Demokrit - eine wissenschaftlich anschlussfähige Spekulation der griechischen Philosophie? Herr Michelsen betonte einleitend, dass die Atomtheorie von Leukipp und Demokrit den krönenden Abschluss der Vorsocratischen Epoche der griechischen Philosophie darstellte. Aristoteles setzte sich mehrfach kritisch mit dem Atomismus auseinander, was der Vortragende mit einem Textbeispiel illustrierte. Erst in der Renaissance fand die Theorie von Leukipp und Demokrit wieder Beachtung. Die Argumentation der Atomisten gegenüber den philosophischen Ansichten, wie sie in der Schrift des Parmenides zum Ausdruck kam, war wissenschaftlich-methodologisch bedeutsam. Herr Michelsen zitierte hierzu den Philosophen Karl Popper, der darauf hinwies dass der Atomismus als erste physikalische Hypothese anzusehen ist, die das direkte Ergebnis eines falsifizierenden, deduktiven Arguments war. Demokrit besaß, auf Grund der postulierten Unbeobachtbarkeit der Atome, die Meinung, dass seine Atomtheorie sich einer empirischen Untersuchung entzieht. Erst die Umwandlung der Atomtheorie als metaphysische Theorie in eine Hypothese, die dann empirisch und mathematisch seit Beginn des 20. Jahrhunderts getestet werden konnte, hat die Atomtheorie zum erfolgreichsten Modell der griechischen Naturphilosophie gemacht.
Den letzten Kurzvortrag hielt Herr Dr. Rüdiger Blaschke aus Wuppertal zu dem Thema: Vom Urknall zur Spiritualität, Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Erkenntnistransfer. Herr Dr. Blaschke versuchte den Bogen von der Evolution des Kosmos zur Weltanschauung zu schlagen. Er ging auf Fragen ein, wie 'was ist Fundamentalismus' und wie stehen Wissenschaft und Religion zur Weltanschauung. Herr Dr. Blaschke forderte im Sinne des Systemdenkens und der Synergie eine einheitliche Behandlung solcher Themen wie Entwicklungspsychologie, Evolutionstheorie des Kosmos und des menschlichen Lebens ein.
Nach den Kurzvorträgen gab es traditionell die gut genutzte Möglichkeit, in drei Arbeitsgruppen mit den Referenten weiter zu diskutieren und das bisher Erfahrene zu vertiefen.
Seinen Abschluss fand der Samstag mit einem Musischen Abend. Frau Silvana Uhlrich-Knoll aus Potsdam trug zur Freude ihrer Zuhörer auf gekonnte und charmante Weise Chansons vor.
Den ersten Vortrag am Sonntag, dem 17. Mai, hielt Herr Dr. Peter Habison aus Wien. Sein Vortragsthema lautete: Das Projekt E-ELT – das größte Teleskop der Welt. In der chilenischen Atacamawüste wird zurzeit das größte astronomische Teleskop der Welt errichtet. Es trägt den Namen European Extremely Large Telescope (E-ELT). Es wird durch die Europäische Südsternwarte ESO erbaut. Herr Dr. Habison gab einen Überblick zur beeindruckenden Geschichte der ESO. Der Hauptspiegeldurchmesser des E-ELT soll 39 m betragen. Er ist aus 798 sechseckigen Spiegelelementen zusammengesetzt. Damit soll die Lichtstärke des neuen Teleskops um den Faktor 15 größer sein, als das derzeitig größte Teleskop. Mit seinen Abmaßen von 86 m Höhe und 100 m Durchmesser, stellt das Teleskop den Wiener Stephansdom in den Schatten, wie Dr. Habison betonte. Das E-ELT besitzt seine spektrale Empfindlichkeit in den Wellenlängenbereichen optisches, nah- und mittleres-Infrarot. Das optische Design des Teleskops weist neben dem Hauptspiegel vier weitere Spiegel auf, die sich im Strahlengang zwischen Hauptspiegel und Beobachter befinden. Der vierte Spiegel besitzt adaptive Eigenschaften. Ein Wellenfrontsensor misst die Störungen, die eine ebene Wellenfront erleidet bevor sie in das Teleskop eintritt. Solche Störungen sind z.B. Dichteschwankungen in der Atmosphäre. Man rechnet damit, dass das E-ELT auch eine 15-fache geometrische Auflösung (Bildschärfe) im Vergleich zum Hubbleteleskop aufweisen wird. Die Wissenschaft erhofft sich durch den Einsatz des E-ELT, man rechnet mit den ersten Beobachtungen ab 2024, neue Erkenntnisse zu der Erforschung von hochrotverschobenen Galaxien, Sternentstehung, Exoplaneten und protoplanetaren Scheiben.
Mit dem Beitrag 'Wie wahr sind die Aussagen der Naturwissenschaft' fand die Tagung ihren Abschluss. Der Vortragende war der Philosoph Prof. Dr. Herbert Hörz, langjähriger Präsident der Leibniz-Sozietät. Prof. Hörz befasste sich in seinem Vortrag mit acht ausgewiesenen Schwerpunkten. Diese waren, die Erkennbarkeit des Universums, die Frage, was Wahrheit ist, von Wahrheitssuchern und Meinungsliebenden, über Be- und Verwertung von Erkenntnissen und über den Zweifel an objektiver Wissenschaft mit objektiven Wahrheiten, die Hypothesen der Physik aus philosophischer Sicht, Wahrheit und Wert von Erkenntnissen und schlussendlich über den Wert der Wahrheit. Die Differenzierung der Wahrheit in relative und absolute Wahrheit spielte in den Ausführungen von Prof. Hörz eine zentrale Rolle. Der stetige Formenwandel der Natur und ihre Unerschöpflichkeit lassen nach Ansicht des Redners keine absoluten wissenschaftlichen Wahrheiten zu. Die Wahrheit ist ein komplexes Gebilde und die Synthese von Teilwahrheiten ergibt nicht notwendig ein wahres Gesamtbild wieder. Prof. Hörz ist der Meinung, dass der Erkenntnisprozess sich von einfachen zu komplexen Wahrheiten hin vollzieht. Die Kriterien, die bei der Suche nach objektiver Wahrheit, eingehalten werden müssen (notwendig), sind logische Widerspruchsfreiheit, praktische Überprüfbarkeit und Reproduzierbarkeit. Zur Frage, was ist Wahrheit, betonte Prof. Hörz die Äquivalenz zwischen Erkenntnis und Erkenntnisobjekt. Ob eine Äquivalenz hergestellt wurde, wird durch die Praxis entschieden. Auch auf die Zeitabhängigkeit, der historische Aspekt, der Wahrheit wurde durch den Vortragenden hingewiesen. Zwischen philosophischen Hypothesen und physikalischer Forschung besteht ein Wechselspiel. Im positiven Fall, wie am Vortag im Vortrag über die Atomistik von Leukipp und Demokrit erläutert, besitzt die philosophische Hypothese einen bedeutsamen heuristischen Impuls für die konkrete physikalische Forschung. Abschließend verwies Prof. Hörz auf den Aspekt, dass Wahrheitssuche eine Überlebensstrategie des Menschen ist.
Die Tagungsteilnehmenden waren für die exzellente Tagung und deren Leitung durch Herrn Prof. Dr. Dieter B. Herrmann sehr dankbar. Durchweg gab es positive Resonanzen und Rückmeldungen, vor allem in dem abschließenden Akademie-Forum. Das Tagungsprogramm hat viele neue Erkenntnisse und Einblicke als auch Anregungen für weiteres Neugierigsein erzeugt. Offene, noch nicht erklärbare Sachverhalte über unseren Kosmos regen an, unsere Daseinsfragen zu erkennen und weiter zu verfolgen.
Die Video-Zusammenfassung der Tagung der Freien Akademie ist zu finden unter:
https://www.youtube.com/watch?v=EFvyMHO-U6k
Dr. Martin Scheele
Bericht über die Tagung 2014
Die diesjährige Tagung der Freien Akademie fand vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Frankenakademie Schloss Schney in Lichtenfels statt. Sie stand aus aktuellem Anlass - vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg - unter dem Thema „Frieden und Krieg im 20. und 21. Jahrhundert – Ursachen, Konsequenzen, Alternativen“. Das reichhaltige Programm bot 7 Plenar- und 6 Kurzvorträge, verbunden mit lebhaften ertragreichen Diskussionen.
In einer knapp gehaltenen Einführung charakterisierte der Präsident der FA und wissenschaftliche Tagungsleiter, Volker Mueller, Frieden und Krieg als grundlegendes globales Thema des Daseins und Zusammenlebens der Menschen und als interdisziplinär angelegten Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit. Er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Anstrengungen um Frieden erfolgreicher sein mögen. Er nannte Zielstellungen der Tagung und sprach die Erwartung reicher inhaltlicher Erträge der Referate und Diskussionen aus.
Die Reihe der Plenarvorträge eröffnete Gerhard Sollbach, Professor für mittelalterliche Geschichte aus Dortmund. Er hatte das Thema „Kraftvoll schlägt die Flamme vaterländischer Begeisterung empor“ gewählt. Im Mittelpunkt seiner Darlegungen stand die Art und Weise, mit der bestimmte Kreise der deutschen Bevölkerung auf Beginn und Verlauf des 1. Weltkrieges reagierten. An Hand zahlreicher Fotos und Pressenotizen aus dem Sommer 1914 wies Sollbach nach, dass zunächst eine Kriegseuphorie vorherrschte. Parallel dazu wurden jedoch auch Gleichgültigkeit, Angst und Sorge im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen laut. Am Beispiel von Presseberichten aus den westfälischen Städten Hagen und Haspe über die Stimmung in der Bevölkerung zeigte der Referent, dass der Zweifel der historischen Forschung an einer allgemeinen Kriegsbegeisterung seine Berechtigung hat. Sollbach vertrat und erläuterte seine These: Nicht die Kriegsbegeisterung, sondern Nationalstolz und Pflichterfüllung trieben die deutschen Soldaten in den Krieg, verbunden mit der Ansicht, dies sei ein gerechter Krieg für das Vaterland.
Werner Onken, Diplom-Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter aus Oldenburg, sprach zum Thema „Krieg und Frieden aus ökonomischer Sicht“. Der Vortragende merkte kritisch an, dass sich die klassische Ökonomie kaum mit der Problematik von Krieg und Frieden beschäftigt habe. Er charakterisierte die wirtschaftliche Bedeutung eines Krieges, u. a. als Profitquelle durch die massenhafte Produktion von Kriegsmaterial und den Kampf um Ressourcen. Er hob die besondere Rolle der Militärökonomie hervor und bezeichnete sie als „Betriebswirtschaftslehre der Streitkräfte“. Onken stellte der klassischen Ökonomie eine alternative Ökonomie gegenüber, die sich durch eine pazifistische Grundhaltung auszeichnet und um die sich namhafte Ökonomen wie H. George, S. Gesell und J. Keynes verdient gemacht haben. Für die alternative Ökonomie geltend, hob der Referent folgende Auffassungen hervor:
- Für Boden und andere Ressourcen gilt für jeden Menschen das Recht der gleichen Teilhabe.
- Als Quelle für Unfrieden sind gesellschaftliche Strukturen anzusehen.
- Strukturelle Ungerechtigkeit einschließlich der Geldwirtschaft stört den Frieden.
- Eine solche Art Ökonomie lehnt den Kolonialismus ab und spricht sich für eine Internationalisierung der Ressourcen und des Welthandels aus.
Im Sinne dieser Positionen beklagte Onken die Ressourcenverschwendung für Kriegszwecke sowie die umfangreichen Geschäfte mit Waffen und kritisierte damit zusammenhängend die gegenwärtige Ökonomie und Politik.
Das Thema „Zum Unfrieden verurteilt? Ressourcenknappheit und mögliche zukünftige Kriegsgefahren“ hatte Franz M. Wuketits, Biologe und Professor an der Universität Wien, für seinen Vortrag gewählt. Er ging davon aus, dass es durchaus möglich sei, Geschichte auch in jüngerer Zeit als Kriegsgeschichte zu interpretieren. Damit verbunden stieß er auf die Frage: Was ist ein Krieg? und beantwortete sie nach folgenden Kriterien:
- einheitliche Überzeugung der Kriegführenden,
- Zerstörungsabsicht bis zur Ausrottung,
- strategische Planung,
- Waffeneinsatz und das Schaffen einer entsprechenden Kriegsindustrie.
Über eine Betrachtung der Vorstufen von Kriegen, z. B. bei rivalisierenden Schimpansenhorden und gewaltsamen Auseinandersetzungen von Steinzeitmenschen kam Wuketits auf Kriegsursachen zu sprechen: ethnische Konflikte und Nationalismus, religiöser Fanatismus, Totalitarismus, Ressourcengewinnung. Am Beispiel des Kampfes um die Ressource Wasser und am Beispiel von Jugendarbeitslosigkeit zeigte der Referent Konfliktpotenziale auf, die möglicherweise in kriegerische Auseinandersetzungen münden können.
Wuketits widmete sich auch der Frage: Was können wir gegen Krieg und Kriegsgefahr tun? Dazu nannte er die folgenden Gesichtspunkte, welche zu Antworten führen:
- Abrüsten und humane Verwendung der dadurch frei werdenden Mittel,
- Abbau sozialer Spannungen,
- Sichern von Ressourcen im weltweiten Maßstab,
- mehr Investitionen in Bildung,
- Abbauen von Fanatismus und Fundamentalismus.
Jedoch Wuketits merkte auch eine Tendenz des Pessimismus hinsichtlich der zukünftigen Friedenssicherung an.
Als eine von allen Teilnehmern begrüßte Bereicherung des Tagungsprogrammes erwies sich die am 2. Mai durchgeführte Exkursion in das Friedensmuseum und die Lernwerkstatt Frieden in Meeder bei Coburg. Mitglieder des Vereins „Friedensmuseum Meeder e. V.“ führten durch die umfangreiche Ausstellung. Drei Schülerinnen schlüpften in die Rolle der Coburger Friedensaktivistin Anna B. Eckstein (1868 – 1947) und sprachen über ihr Leben und Werk. Der Besuch hinterließ einen nachhaltigen Eindruck und förderte den Wunsch zutage, bei künftigen Veranstaltungen der FA erneut derartige Unternehmungen anzubieten.
Thomas Junker, Evolutionsbiologe, Professor in Tübingen, widmete sich am Freitagabend dem Thema „Biowaffe Kunst? Warum sie Frieden schafft und Kriege schürt“. Mit dem Begriff „Biowaffe“ charakterisierte der Vortragende die Wirkung von Kunst auf Krieg und Frieden und führte dazu als Beispiel die Geburt des Dadaismus während des 1. Weltkrieges an. Die Frage: Muss Kunst auf Töten, Blutvergießen und Mord hinauslaufen? leitete Junker zu einem Exkurs über die evolutiven Wurzeln der Kunst. Unter evolutionsbiologischem Aspekt betrachtet, beginnt Kunst immer beim Einfachen; künstlerische Talente und Interessen sind in der Natur des Menschen angelegt. Die „Kunstfähigkeit“ des Homo sapiens ist wahrscheinlich vor ca. 200.000 bis 100.000 Jahren entstanden und war mit einem evolutionären Erfolg verbunden. Damit kann auch die Frage: Warum sind die künstlerischen Fähigkeiten entstanden? beantwortet werden. Kunst hatte zweifellos einen Nutzen für das Wohlergehen, Überleben und die Fortpflanzung der Menschen. Allerdings steht dem die These von der Zweckfreiheit der Kunst gegenüber.
Junker verdeutlichte an Hand zahlreicher, durch Bilder gestützte Beispiele, welche vielfältigen Funktionen Kunst haben kann. Sie fördert z. B. den Gruppenzusammenhalt nach innen, aber auch die Abwehrbereitschaft und Aggression nach außen. Kunst kann Quelle für Abgrenzung, aber auch aggressives Signal sein und als Aggressionsverstärker, z. B. durch Hässlichkeit, wirken.
Das Thema „Gewaltfreie und lebensfreundliche Konfliktlösungen – Chancen der Mediation“ brachte Tina Bär, M. A., Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin und Mediatorin aus Berlin, den Zuhörern am Samstagvormittag nahe. Die Rednerin ging von den Funktionen der Mediation aus und legte dar, welchen Beitrag sie zur Friedenssicherung leisten kann. Bei der Mediation – so Bär – gehe es nicht um Recht oder Unrecht, sondern darum, die Ursachen eines Konfliktes zu ergründen und über Wege zur Lösung zu einer Entspannung der Situation zu kommen. Die Vortragende machte das Auditorium mit dem Konzept der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (1963) bekannt, das sich der „Wolfssprache“ und der „Giraffensprache“ bedient und die folgenden Schritte umfasst:
- Beobachten ohne zu bewerten,
- Gefühle wahrnehmen und ausdrücken,
- Verantwortung für die eigenen Gefühle übernehmen und Bedürfnisse benennen,
- Bitten ohne zu fordern.
Bär sprach auch über die Funktionen eines Mediators und die Anforderungen, die an einen solchen gestellt werden. In ihre Darlegungen flocht sie zahlreiche Beispiele der Mediation von Einzel- und Gruppenkonflikten sowie der internationalen Politik ein. Sie betonte, dass es Grenzen der Mediation bei der Eskalation von Konflikten gibt.
Matthias Jochheim sprach zu uns nicht nur als ärztlicher Psychotherapeut aus Frankfurt/M., sondern auch als Vertreter der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) zum Thema „Krieg als eine soziale Krankheit – der Beitrag von Ärzten zu ihrer Verhütung“. Im ersten Teil seines Vortrages kennzeichnete Jochheim das gesellschaftliche Engagement bekannter Persönlichkeiten gegen den Krieg. An Beispielen legte er dar, wie sich Rudolf Virchow, Sigmund Freud, Erich Fromm, Alexander und Margarete Mitscherlich, Stavros Mentzos und Horst-Eberhard Richter für den Frieden eingesetzt haben. Es reifte die Erkenntnis, dass Krankheiten gesellschaftliche Ursachen haben und eine Unterscheidung von Aggression und Destruktion notwendig erscheint.
Im zweiten Teil seiner Ausführungen stellte Jochheim einige Aktivitäten von Mitgliedern der IPPNW gegen Atomkrieg, für Abrüstung und Frieden vor. Dazu gehören das Eintreten für die Verhinderung eines Atomkrieges, die Lösung der Probleme um Atomkraftwerke und nuklearen Müll, das Eintreten für die Rechte Unterprivilegierter, das Lösen medizinethischer Probleme, die Schaffung einer Kultur des Friedens.
Im Rahmen der am 3. Mai gehaltenen Kurzvorträge legte Dr. Dieter Fauth (Zell am Main) mit seinem Thema „Zur personalen Aktualität des Großen Krieges bis heute“ dar, wie in seiner Familie persönliche Entwicklungen und Schicksale mit Krieg und Frieden verbunden waren und sind, dadurch eine generationenübergreifende Familienprägung erfolgte.
Renate Bauer (Ludwigshafen) referierte zum Thema „Freigeistige zum 1. Weltkrieg“. Sie verwies auf zeitgenössische Quellen freigeistiger Literatur, die zunächst kriegsunterstützende, ab 1915 verstärkt kriegskritische und –ablehende Äußerungen enthielten.
Über „Die deutschen Volksgruppen Mittel- und Südosteuropas seit dem 1. Weltkrieg – Leidensweg, Status quo und Zukunftsaussichten“ sprach Dr. Mathias Weifert (Miltenberg). Dabei äußerte er sich u.a. kritisch über den Begriff Volksgruppe.
Dr. Dr. Jan Bretschneider (Weimar) griff mit seinem Thema „Ist der Mensch von Natur aus aggressiv?“ mögliche biotische Grundlagen für Aggressivität und Aggressionen des Menschen auf und zeigte, dass derartiges Verhalten in das Möglichkeitsfeld des gesamten Sozialverhaltens (agonistisches Verhalten) einzuordnen ist.
Zum Thema „Philosophische Anmerkungen zum Verhältnis von Fortschritt und Krieg“ referierte Christian Michelsen (Falkensee). Diese Zusammenhänge erläuterte er an Hand von Caesars Rechtfertigung der Eröffnung des Krieges in Gallien, von Ian Morris’ Theorie des produktiven Krieges und des geschichtsphilosophischen Utilitarismus.
Ausführungen zum Thema „Gewaltfreiheit als Grundlage des Weltfriedens“ machte Dr. Rüdiger Blaschke (Wuppertal). Er stellte eine Ethik der Gewaltfreiheit vor und sprach über Grundsätze gewaltfreien Verhaltens und ihre Anwendungsebenen.
Vier Arbeitsgruppen boten am weiteren Nachmittag des 3. Mai den Tagungsteilnehmern zusätzlich Gelegenheit, die in den Vorträgen und anschließenden Diskussionen angesprochenen Sachverhalte und Probleme aufzugreifen und weiter zu besprechen. Das geschah ausgiebig zu den Themen „Verhältnis von Ökonomie und Krieg“, „Ursachen, Verlauf und Ergebnisse des 1. Weltkrieges“, „Gewaltfreie Konfliktlösungen“ und an Hand des Filmes „Die Elsässer“.
Der Samstag wurde durch einen erfreulichen Musischen Abend beschlossen. Der Liederzyklus von Franz Schubert „Die schöne Müllerin“, der durch Frau Brinckmann, Herrn Inderfurth und Herrn Verlande vorgetragen wurde, war eine willkommene Ergänzung zu den intensiven Diskussionen der Tagung.
Abschließend referierte am 4. Mai im Plenum Prof. Bernhard Verbeek, Zoologe und Biologiedidaktiker aus Dortmund, zum Thema „Die anthropologischen Wurzeln von Kriegsbereitschaft“. Der Vortragende leitete seine Ausführungen mit einem ukrainischen Sprichwort ein: Wo die Fahnen wehen, ist der Verstand in der Trompete. Er wies an Hand zahlreicher Beispiele nach, dass, seit es soziale Gruppen gibt, Konflikte nach innen und nach außen existieren. Entsprechend dem Prinzip des Historismus vorgehend, erläuterte er, wie die Verhaltenssteuerung selektionsunterworfen ist. Jedoch, so Verbeek, die Evolution sei keine moralische Anstalt! Eigenschaften wie Kampfmoral gehörten zu den Überlebensstrategien im prähumanen und humanen Bereich und bestimmten neben der Genkonstellation den evolutionären Erfolg mit.
Verbeek ging auch auf den naturalistischen Fehlschluss ein, der die negativen Seiten der Evolution mit deren Natur rechtfertige und die kulturelle Überformung vernachlässige. Aber auch Kultur ist ein Evolutionsprodukt! Der Redner führte einige Beispiele an (Bedeutung von Kraft und Macht, Infantizid, Opfer- und Verteidigungsbereitschaft), wie Natur- und Kulturfaktoren in sozialen Gruppen zusammenwirken.
Zur Frage: Was können wir tun? nannte Verbeek das Ausformen einer „Verhaltenshygiene humanistischer Prägung“ und nicht nachlassende Aufklärung als Möglichkeiten, an „Die Wurzeln des Krieges“ – so der Titel seines Buches – heranzukommen.
Im abschließenden Forum am Sonntagvormittag fand der Dialog zwischen Referenten und Auditorium bilanzierende Fortsetzung, die vom Tagungsleiter moderiert wurde. Hier standen der Begriff Urkatastrophe, Schlussfolgerungen und Konsequenzen aus der Kriegs- und Friedenshistorie im Mittelpunkt. Frieden bedeutet mehr als Nicht-Krieg; es gilt auch die Ursachen für Frieden zu finden. Dafür ist es erforderlich, das Problem Krieg – Frieden global zu sehen und zu lösen.
Diese Tagung wird von der Bundeszentrale für politische Bildung – mit Unterstützung des Paritätischen Bildungswerkes Bundesverband – gefördert.
Dr. Dr. Jan Bretschneider, Weimar
Mitgliederversammlung der Freien Akademie tagte
Auf der Mitgliederversammlung der Freien Akademie e.V. am 1. Mai 2014 wurden die aktuellen Aufgaben der Freien Akademie beraten. Besonders erfreulich sind die guten Resonanzen zu den letzten wissenschaftlichen Tagungen und der Vertrieb der Schriftenreihe der Freien Akademie. Die Schriftenreihe wird weitergeführt, soll aber verstärkt beworben und verbreitet werden. Auch andere Medien sollen mehr genutzt werden.
Wichtig für die weitere Tätigkeit der Freien Akademie ist die kritische Beschäftigung mit ihrer Vor- und Frühgeschichte. Sie wird weitergeführt.
Das Präsidium wurde gewählt: Als Präsident Dr. Volker Mueller (Falkensee), als Vizepräsidenten Dr. Dieter Fauth (Zell am Main) und Dr. Martin Scheele (Brieselang), als Schatzmeisterin Ingrid Hesse (Lübeck) und als Beisitzer Wilfried Zöllner (Berlin) wieder bzw., im Fall von Ingrid Hesse, neu gewählt.
Die Freie Akademie wird ihre wissenschaftliche, vor allem interdisziplinär und überkonfessionell angelegte Arbeit weiterführen und sich stets bemühen, für alle Interessenten gute Angebote zu unterbreiten und interessante Tagungsthemen zu gestalten. Dabei will sie u.a. auch neue Mitglieder gewinnen.
Freie Akademie, Dr. Volker Mueller, D – 14612 Falkensee, Holbeinstr. 61
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www.freie-akademie-online.de
Bericht zur Tagung der Freien Akademie Mai 2013:
Denis Diderot und der Zusammenhang der Wissenschaften und der Künste
Die Freie Akademie hat ihre wissenschaftliche Tagung vom 9. bis 12. Mai 2013 in der Fankenakademie Schloss Schney mit 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Jahr der Aufklärung – aus Anlass des 300. Geburtstages von Denis Diderot – erfolgreich durchgeführt. Die Tagungsbeiträge sind in einem filmischen Zusammenschnitt anzuschauen unter: https://www.youtube.com/watch?v=y0Er77iG1x8
Der wissenschaftliche Tagungsleiter Dr. Volker Mueller (Falkensee) ordnete das 18. Jahrhundert in seinem einführenden Vortrag „Das Phänomen der Europäischen Aufklärung“ als das philosophische Jahrhundert, als das Jahrhundert des Lichts und der Vernunft ein. Große politische und wirtschaftliche Umwälzungen gingen einher mit geistigen Bestrebungen, neue Gesellschaftsordnungen und die Emanzipation im geistigen Raum zu entwickeln und philosophisch zu begründen sowie aufklärend zu wirken. Frankreich zeigte sich führend im geistigen Raum, wobei die französischen Philosophen in engen Kontakten zu Menschen in anderen europäischen Ländern standen. Aufklärung erwies sich als europäisches Phänomen. Zentrale Themen der Aufklärung waren die Emanzipation der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft, von der Theologie, die Entwicklung dogmenfreier Religion, so des Deismus bis hin zum Atheismus, die Emanzipation des Menschen mit dem Postulat der Gleichheit aller (ausgenommen Frauen und Sklaven, was aber bis Ende des Jahrhunderts auch schon kritisch diskutiert wurde), das Aufheben überkommener Denkfiguren und der Autoritätshörigkeit durch eigenes selbstbestimmtes Denken, die Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz, die nicht mehr als natürlich aufgefasst wurde, sondern dem ein Gesellschaftsvertrag zugrunde gelegt wurde, und der gegenseitigen Toleranz. Erfindungen und Entdeckungen führten zu einem kosmopolitischen Blick. Die Methoden des 18. Jahrhunderts wurden der methodische Zweifel, die systematische Kritik und die kritische Erfahrung in der experimentellen Naturwissenschaft.
Bis heute weiterwirkende Themen sind vor allem
- die intersubjektive Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Aussagen,
- die Menschen- und Bürgerrechte,
- Gleichheit vor dem Gesetz eines Staates,
- die Trennung von Religion und Staat.
Erschüttert wurde allerdings der Fortschrittsoptimismus des 18. Jahrhunderts vor allem durch die historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert, was auch zur Kritik an der Aufklärung selbst führte, als sie durch ihre Konzentration auf Technik und Rationalität sich selbst aufhebe.
Die Aufklärung ist bis heute unabgeschlossen (kann sie je ernsthaft abgeschlossen werden?). Gewonnene Ergebnisse sind die Menschenrechte, das Infragestellen der „Allianz von Thron und Altar“ und der Humanismus - als wesentliche Teile des Erbes der Aufklärung. Wir nehmen heute deutlicher ihre Kehrseiten wahr, Kritik, Vernunft und Zweifel erhalten heute neue Funktion. Auch die Freiheitsrechte vor allem in Meinung und Kunst werden in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und ihrer Veränderbarkeit - und die Freiheit insgesamt - besser eingeschätzt. Basierend auf der Aufklärung etabliert sich das Denken im Gesamtzusammenhang in den Wissenschaften und in der Frage nach den Auswirkungen der Erkenntnisse auf anderes.
Neue Fragen tauchen auf, die den Prozess der Aufklärung wieder neu beleben, wie die Abschätzung von Risiken, die soziale Verwerfung durch arm und reich, die Förderung von Vernunft und Urteilskraft durch Bildung, aber auch die gedämpften Erwartungen bezüglich der modernen Wissenschaften als Hoffnungsträger der Moderne.
Volker Mueller führte die Entstehung der Themen und gerade die neue Sicht des wissenschaftlichen Denkens und kritischen Fragens am nächsten Tag in seiner Darstellung der Person Denis Diderots und der „Encyclopédie“ aus, weswegen darüber hier gleich im Anschluss berichtet werden soll. In seinem Vortrag zu „Wissen und Weisheit. Diderots Idee vom Ganzen und die Encyclopédie“ widmete er sich diesem zentralen Werk Diderots. Erschienen in einem ersten Band 1751, der letzte, der 17. Textband - neben elf Bildbänden - dann 1772 , ist sie nicht nur eine Sammlung des damaligen Wissens, sondern Diderot stellte in ihr den Zusammenhang der Wissenschaften, der Technik und Künste und der gesellschaftlichen Themen dar und klassifiziert sie. In seiner Grundkonzeption eines Stammbaumes des menschlichen Wissens, ausgehend von den Fähigkeiten des menschlichen Geistes und der Sinne, als auch durch den Aufbau der Artikel mit zahllosen Querverweisen, werden die Tatsachen nicht einfach vereinzelt dargelegt, sondern in einen Grundzusammenhang gestellt.
Zwischen Einführung und Ausführung über Diderots Encyclopédie sprach Dr. Erich Satter (Graz) in einem Vortrag mit sehr vielen Querverweisen über „Die Wechselwirkung von Ethik und Ästhetik“.
Für Diderot war es Aufgabe der Kunst, Erfahrung zur Veränderung von Menschen zu schaffen. Damit überschätzte er die Wirkung der Kunst, weist aber auf die Abhängigkeit des Verstandes vom Gefühl hin. Satter unterschied zwischen Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung und der Ästhetik als subjektive Empfindung und untersuchte den Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik, inwieweit Kunst eine emotionale Wirkung auf die Ethik habe. Die Ambivalenz des Ästhetischen ist grundsätzlich einzusehen, nicht nur könne sie zum Guten anregen, sie werde auch eingesetzt als Herrschaftsinstrument zur Manipulation. In ihrer Sprachunabhängigkeit und Emotionalität wirkt sie direkter auf den Menschen, Kunst als nonverbale Darstellung des kaum Sagbaren kann dabei auch Verborgenes und Dunkles sichtbar machen wie auch verschleiern. Satter führte anhand Victor Krafts Kultur-Ethik aus, wie eine Wechselwirkung zwischen Ästhetik und Ethik möglich sei. Für Kraft ist der oberste ethische Wert die Wahrheit und in der Ästhetik der oberste Wert die Entwicklung der Kultur: Wahrheit deswegen, weil Lügen an der Wirklichkeit scheitern und daher die Konstanz des Lebens aufheben. Die Wechselbeziehung zwischen Ethik und Entwicklung der Kultur bestimme den Wert des Lebens. Eine Freiheit der Kunst steht dabei über utilitaristischen Erwägungen. Was beides vereine, sei der Versuch, eine Ethik ohne Mystifikation und Bezug zur Gewalt zu entwickeln, und eine Ästhetik im Sinne einer objektiven Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung zur Beschreibung der Wirkung von Kunst in ihrer befreienden wie manipulativen Form zu entwickeln, damit beides zur Entwicklung des Menschen beitrage.
Christian Michelsen (Falkensee) widmete im 1. Workshop seinen Vortrag über Skeptizismus noch einmal ganz Diderot. Dessen skeptische Methode stellte er anhand Diderots erster philosophischen Schrift „Philosophische Gedanken“ von 1746 vor - in Abgrenzung zur Pyrrhonischen Form des Skeptizismus, wie sie zuletzt von Pierre Bayle dazu benutzt wurde, um die Vernunft als Weg zur Wahrheitsgewinnung abzuwerten, wodurch Wahrheit sich nur noch durch Glaube als Offenbarungswahrheit erschließe. Diderot setzt dagegen auf die drei Schritte der sorgfältigen Naturbeobachtung, der tiefen Reflexion darüber und der genauen Erfahrung, mit deren Hilfe man zu wahren Sätzen gelangen könne. Richtiges Schlussfolgern und experimentelle Physik führen zu wahren Sätzen, für die es keine gleichwertige Verneinung gebe, wie der pyrrhonische Skeptizismus voraussetze. Diderot griff hier Sokrates’ Dialogform („Hebammenkunst“) auf, die er mit seiner Methode weiterentwickelte.
Anstelle des Vortrages von Prof. Raby (Angers), der leider kurzfristig aus Krankheitsgründen nicht kommen konnte, vertieften am Freitagabend literarische Texte von und über Diderot das Wissen über ihn und seine Zeit.
Am Samstagvormittag nahm Dr. Michael Schippan (Wolfenbüttel) alle in einem anekdoten- und kenntnisreichen Vortrag zu „Denis Diderot und Katharina die Große. Wissenschaften und Künste zur ‚Zivilisierung‘ Russlands?“ mit auf die Reise Diderots nach Russland zu Zarin Katharina II. Er berichtete über die Aufklärung in Russland und über Begegnungen Diderots, deren gegenseitige Einschätzung und die literarischen Ergebnisse, die Diderot daraus verfertigte. Katharina II. unterstützte Diderot materiell und dafür verteidigte er sie gegen Angriffe auf ihren Ruf.
Da bedauerlicherweise die vorgesehene Referentin Frau Dr. Baron (Halle/ S.) kurzfristig nicht anreisen konnte, vertiefte Michael Schippan am Nachmittag in einem 2. Vortrag seine Ausführungen über die aufgeklärte Schriftstellerin Katharina die Große. Die Zarin war die produktivste Schriftstellerin zu ihrer Zeit in ihrem Reich und verfolgte neben Entspannung für sich selbst mit ihrem breitgefächerten Schreiben, bei dem nur die Gedichte fehlten, auch erzieherische und politische Ziele für ihre Untertanen. Bedeutend gehört dazu auch ihre Instruktion zur Verfertigung eines Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuch. Darin erwies sie sich ganz als religiös-tolerante und pragmatische Aufklärerin, sofern ihre politische Macht nicht bedroht wurde.
In einem Textvergleich nahm dazwischen in einem 2. Workshop Stephan Kohnen (Falkensee) die Teilnehmer mit in die philosophische Diskussion des Theodizee-Problems anhand von Texten von Johann Gottfried Leibniz, Francois-Marie Voltaire und Immanuel Kant. Dies war eines der Themen, das gerade in der Aufklärung große Beachtung fand - auch aufgrund der Naturkatastrophe in Lissabon 1755, bei der ein großes Erdbeben die Stadt zerstörte und viele Opfer forderte.
Noch einmal sehr genau betrachtete Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien) Diderots Ideen zur Evolution in seinem Vortrag „Diderot und die Anfänge des Evolutionsgedankens“. Er erläuterte zuerst, was Evolutionstheorie sei - in Abgrenzung zur Evolution, die neutral Entwicklung bedeutet. Man spricht von Evolutionstheorie dann, wenn sie postuliert, dass Evolution stattfindet und sie die Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen der Evolution angibt. Anschließend diskutierte er die Hindernisse, die sich einer Entwicklung einer solchen Theorie im 18.Jahrhundert stellte. Neben der Macht der Kirche war es auch die wörtliche Bibelauslegung, die eine Vorstellung der langen Zeiträume, die für eine Evolution notwendig sind, verhinderte. Hinzu kam die Schwierigkeit, dass Evolution selbst nicht wahrnehmbar ist und das Weltbild der damaligen Zeit, das nur in Form von Wesenheiten und nicht von Prozessen dachte, ein starres war. Wuketits zeigte anhand von Zitaten, dass Diderot im 18. Jahrhundert ein echter Vorreiter des Evolutionsgedankens war, allerdings reichte es nicht zur Entwicklung einer eigenständigen Theorie. Deutlich wird bei ihm die Entwicklung hin zu einem dynamischen Denken und zu einem säkularen Humanismus.
Arbeitsgruppen diskutierten mit den Referenten die Themen am Freitag- und Samstagnachmittag jeweils weiter. Dire Tagungsteilnehmer nahmen diese Möglichkeiten sehr gern und intensiv wahr.
Am Samstag zur Abrundung fand der traditionelle und geliebte Musische Abend, diesmal gestaltet von Lehrkräften der Musikschule Lichtenfels, mit Musik aus der Zeit der Aufklärung statt.
Zum Abschluss am Sonntagvormittag konnten noch offene Fragen im Akademie-Forum mit allen anwesenden Referenten gemeinsam ausführlich diskutiert werden. Im wesentlichen waren sich die Tagungsteilnehmer einig, dass Aufklärung seit ca. 300 Jahren Gegenwart ist und sie nicht abgeschlossen sei. Der gesellschaftliche Fortschritt seit dem 18. Jahrhundert der Aufklärung in Europa hat eine gewisse Janusköpfigkeit, die sich seitdem zwischen Perfektibilität, Wohlstand und Zerstörung zeigte.
Was bleibt nun im Prozess der Aufklärung? Das ist die sich bedingende Entwicklung von Kultur und Technik – bei einer ethischen Verantwortung der Wissenschaftler. Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit bleibt abzulehnen, aber auch eine zu unkritische Fortschrittsgläubigkeit. Die Aufklärung hat uns die Fragen nach der Irreversibilität des Wissens, einer dynamischen kritischen Vernunft und einem notwendigen neuen Zusammenhangsdenken hinterlassen. Die Encyclopédie ist ein enormes kulturelles Gedächtnis. Ein kritischer Umgang mit modernen Medien und die Beachtung der „dunklen Seite“ der Aufklärung führen uns jedoch nicht weg von dem Nutzen von Wissenschaft, Künsten, Gewerben und Technik. Wissenschaft und Kultur seien nicht trennbar und die fehlerhafte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft im 19. Jahrhundert musste und muss überwunden werden.
Die Tagung bot nicht nur sehr viel neue Information über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und Diderot, sondern wies auch darauf hin, dass sie unabgeschlossen und fort zuführen sei, teilweise mit alten, aber auch mit weiteren neuen Themen.
Renate Bauer, Ludwigshafen
FREIE AKADEMIE e.V.
Zum Tode von Prof. Dr. Johannes Neumann.
Nachruf der FREIEN AKADEMIE
Mit großer Trauer haben wir vom Tod unseres langjährigen Mitglieds der FREIEN AKADEMIE und unseres aktiven Mitglieds des Wissenschaftlichen Beirates Herrn Prof. Dr. Johannes Neumann erfahren. Nach schwerer Krankheit verstarb er im 84. Lebensjahr am 5. Mai 2013 in Oberkirch. Die FREIE AKADEMIE hat einen seiner bedeutendsten Wissenschaftler, einen großen Förderer und einen Freund verloren.
Foto © Evelin Frerk (hpd, Nr: 15868)
Über 30 Jahre hat Johannes Neumann in der FREIEN AKADEMIE mitgewirkt. Als FA-Beiratsmitglied und mehrmaliger Tagungsleiter und Referent hat er großen Anteil am wissenschaftlichen Profil der FREIEN AKADEMIE; er hat sie als offene überkonfessionelle Bildungs- und Wissenschaftsinstitution geschätzt. Die interdisziplinäre Konzentration auf Daseins- und Wertefragen und die Grundfragen des Menschseins und der Kultur zeichnete ihn als Wissenschaftler und Humanisten aus. Er trug dazu bei, die Welt jenseits von Kirche und Dogmatik besser zu verstehen, sich selbst und die Gesellschaft mittels Bildung genauer zu erkennen und entsprechende Orientierungen, Impulse und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Er hat in der Schriftenreihe der FREIEN AKADEMIE mit seinen Beiträgen eindrucksvolle Zeugnisse seiner freiakademischen Arbeit hinterlassen.
Johannes Neumann wurde am 23. November 1929 in Königsberg geboren und studierte dann in Freiburg und München Philosophie, Geschichte, Soziologie und Theologie. Nach der Promotion und Habilitation in München wurde er Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, wo er u.a. an der Seite von Hans Küng und Joseph Ratzinger lehrte. Er wurde Dekan der Theologischen Fakultät Tübingen. Nach der Rückgabe der Missio Canonica und seinem Bruch mit der Kirche war er ab 1977 Professor für Rechts- und Religionssoziologie. 1995 wurde er emeritiert.
Er hat viele Publikationen vorgelegt, vor allem zu soziologischen und sozialen Fragen, zur religionskritischen Aufklärung und zum Verhältnis von Staat und Kirche im säkular verfassten Staat.
Johannes Neumann hat mehrere wissenschaftliche Tagungen der FREIEN AKADEMIE geleitet und nachhaltig wirkende Vorträge gehalten. Wir werden unsere unzähligen Gespräche mit ihm und seine unaufgeregte, gelassene und kompetente Art, auch schwierige Sachverhalte zu besprechen und zu erklären, vermissen. Sein aufrechter Gang für die Wissenschafts- und Geistesfreiheit und die Menschenwürde haben uns nachhaltig beeindruckt. Bescheiden und engagiert hat er als Wissenschaftler und Humanist in der FREIEN AKADEMIE viele Menschen angeregt und Spuren in ihrem Denken und ihren Herzen hinterlassen.
Unser besonderes Mitgefühl übermitteln wir insbesondere seiner Ehefrau Ursula Neumann und seiner Familie.
Wir danken Johannes Neumann für sein Lebenswerk und für sein selbstloses Wirken für die FREIE AKADEMIE. Er hinterlässt uns eine schmerzliche Lücke.
Berlin und Falkensee, im Mai 2013
Dr. Volker Mueller
Präsident der FREIEN AKADEMIE und
Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der FA
Ankündigung
der wissenschaftlichen Tagung der Freien Akademie
vom 1. bis 4. Mai 2014, in der Frankenakademie Schloß Schney, Lichtenfels
Die Freie Akademie wird ihre Tagung im Jahr 2014 wieder in der Frankenakademie Schloß Schney, bei Lichtenfels, zum Themenbereich
„Frieden und Krieg im 20. und 21. Jahrhundert –
Ursachen, Konsequenzen, Alternativen“
durchführen. Dieses vielgestaltige Thema reflektiert ein wesentliches globales Problem, das das Leben und Weiterleben der Menschen, ja ganzer Völker beinhaltet. Anlass der Tagung ist der 100. Jahrestag des Beginns des 1. Weltkrieges (1914 – 1918).
Auf der wissenschaftlichen Tagung sollen vor allem die Ursachen und die Wirkungsgeschichte des 1. Weltkrieges, die Entwicklungen vor, während und nach dem 2. Weltkrieg (1939 – 1945) sowie friedenspolitische Anstrengungen behandelt werden. Unser parteienunabhängiger und überkonfessioneller Ansatz in der Freien Akademie soll das Finden auf Antworten zu den wesentlichen Daseins- und Lebensfragen des menschlichen Miteinanders in Respekt und Frieden befördern.
Die beiden, von deutschem Boden ausgegangenen Weltkriege haben das 20. Jahrhundert auf schreckliche Weise geprägt. Welche Ursachen und Hintergründe gibt es? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Die neuen Dimensionen eines Krieges in der Gegenwart, der durch den Einsatz von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen gekennzeichnet wäre, führen zu der Erkenntnis, dass generell Kriege auf unserer Erde nicht mehr führbar und gewinnbar sind. Wie sieht jedoch die Politik der letzten Jahrzehnte und in nächster Zukunft aus? Worin bestehen neue Konfliktlösungsstrategien, tragfähige völkerrechtsverbindliche Regelungen und notwendige Alternativen zu Krieg und Gewalt in den Beziehungen der Staaten?
Politische und andere Fragen der Friedenssicherung haben in den letzten 100 Jahren die Menschen sehr bewegt, nicht nur wegen der internationalen Kriegserfahrungen im 20. Jahrhundert. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Völkerrecht sind zu unabdingbaren Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben der Menschen geworden, in denen Diktatur, Militarismus und Unterdrückung keinen Platz mehr haben. Der „kalte Krieg“ ist Geschichte.
Eine besondere und wichtige Frage ist die nach der Rolle von Religionen und Ideologien für Frieden und Krieg. Sind religiös-weltanschauliche Konflikte, Fanatismus und Extremismus wesentliche Ursachen für Krieg, Terror und Gewalt, sogar heute mehr als früher?
Auf der Tagung wollen wir diesen und anderen aktuelle Fragen der Friedensforschung und Friedensarbeit zur Kriegsverhinderung nachgehen. Die Entwicklung der Militärstrategien, der Erstschlagthese sowie der Auffassungen über das Recht der militärischen Verteidigung und über „gerechte und ungerechte Kriege“ wollen wir rekonstruieren und uns damit kritisch auseinandersetzen. Kann zum Beispiel Pazifismus Krieg verhindern? Hat Hochrüstung den Frieden sicherer gemacht? Sind „humanitäre Einsätze“ im 20. und 21. Jahrhundert geeignet, die ethisch bestimmten Menschenbilder (der Mensch als natürliches und soziales Wesen) weiterzuentwickeln? Welche Auswirkungen haben militärische Auseinandersetzungen, Kriege oder ein friedliches Leben auf Ökonomie und Ökologie, auf die Natur und die Sozialität?
Die Tagung wird verschiedene sozial- und politikwissenschaftliche, kulturelle, ökonomische, militärische, friedensforschungsrelevante und humanitäre Aspekte beleuchten. In offenen Gesprächen sollen das Geschichtsbewusstsein und die Friedensanstrengungen im 21. Jahrhundert erörtert und verstärkt werden.
Dazu sind alle Interessenten herzlich eingeladen.
Weitere Informationen und das Programm werden auf der Homepage der Freien Akademie veröffentlicht werden: www.freie-akademie-online.de
Anfragen und Vortragsangebote können übermittelt werden an:
Freie Akademie e.V., 14612 Falkensee, Holbeinstr. 61.
Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Dr. Volker Mueller
Präsident der Freien Akademie
Programmflyer und Anmeldung
Einladung
zur wissenschaftlichen Tagung der Freien Akademie
vom 9. bis 12. Mai 2013 in der Frankenakademie Schloss Schney
Die Freie Akademie wird ihre Tagung im Jahr 2013 in der Frankenakademie Schloss Schney, bei Lichtenfels zum Thema
"Denis Diderot und der Zusammenhang der Wissenschaften und der Künste"
durchführen. Sie wird sich intensiv mit den historischen und aktuellen Inhalten freien aufklärerischen Denkens und seinen gesellschaftlichen, weltanschaulichen und wissenschaftlichen Wirkungen beschäftigen, die zu revolutionären Veränderungen geführt haben. Besonderes Augenmerk wird dem enzyklopädischen Zusammenhang und den Wechselwirkungen von Philosophie, Wissenschaften, freien Künsten und mechanischen Künsten seit dem 18. Jahrhundert gewidmet.
Anlass der Tagung ist der 300. Geburtstag eines der schillerndsten und inspirierenden Köpfe der europäischen Aufklärung: Denis Diderot (1713 – 1784), der freidenkende Philosoph, Wissenschaftler, Techniker, Schriftsteller, Dramatiker und Enzyklopädist.
Aus der Zeit der (unvollendeten) Aufklärung heraus entwickeln sich Geistesfreiheit, Humanismus und Menschenrechte.
Geleitet wird die Tagung vom Präsidenten der FA, Herrn Dr. Volker Mueller.
Weitere Informationen und das Programm sind in der Anlage zu finden oder auf der Homepage der Freien Akademie veröffentlicht:www.freie-akademie-online.de
Auf der interdisziplinären Akademie-Tagung soll Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Gelegenheit gegeben werden, in vorbereiteten Kurzvorträgen eigene Thesen und Ideen zum Thema vorzutragen. Die Kurzvorträge sollen neben den Hauptvorträgen und Arbeitskreisen ein eigenständiges Element der Tagung am Freitag- und Samstagnachmittag sein. Sie sollen ggf. auch im Tagungsband mit publiziert werden.
Aus Planungsgründen sind die Kurzvorträge vorab bis zum 15.4.2013 beim Tagungsleiter mit dem Thema und einem kurzen Exposé anzumelden. Das FA-Präsidium lädt herzlich dazu ein, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen und sie anderen potentiellen Interessenten zu vermitteln.
Anfragen und Vortragsangebote können übermittelt werden an:
Freie Akademie e.V., Dr. V. Mueller, 14612 Falkensee, Holbeinstr. 61.
Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Downloads:
Bericht zur Tagung der FREIEN AKADEMIE
Anfang und Ende des individuellen menschlichen Lebens
vom 17. bis 20. Mai 2012 auf Schloss Schney / Lichtenfels.
Nach der Begrüßung durch den Präsidenten Dr. Volker Mueller, schilderte der Wissenschaftliche Tagungsleiter Dr. Dieter Fauth zunächst Eindrücke von der Vorbereitung der Tagung. Erfreulich sei, dass die Tagung erneut über die Bundeszentrale für politische Bildung vom Paritätischen Bildungswerk finanziell gefördert wird. Dies ist zugleich auch eine Rückmeldung zum inhaltlichen Niveau unserer Tagungen. Besonders bedauerlich verliefen die Bemühungen, junge Nachwuchswissenschaftler und -praktiker – aus welchen das Tagungsthema berührenden Bereichen auch immer – für Kurzreferate zu gewinnen. Obwohl diese Menschen Erfahrungen im wissenschaftlichen Diskurs und eigene Publikationen brauchen könnten, sei die Resonanz gleich Null gewesen. Dabei sei dieser Personenkreis systematisch beworben worden, u. a. mithilfe folgender Stellen, die in der Betreuung von Nachwuchskräften tätig sind: (1) academics – Karriereportal für Wissenschaft und Forschung; (2) Bundesministerium für Bildung und Forschung; (3) Deutscher Studienpreis; (4) KISSWIN- Information und Beratung zur wissenschaftlichen Karriere; (5) Kooperationsstelle der EU der Wissenschaftsorganisationen, Bereich Nachwuchswissenschaftler; (6) Robert-Bosch-Stiftung; (7) Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bereich Nachwuchsförderung; (8) Studienstiftung des deutschen Volkes e. V.; (9) THESIS – Interdisziplinäres Netzwerk für Nachwuchsforscher.
Inhaltlich gesehen sei das Tagungsthema besonders unter fachlichen, ethischen und unter gesellschaftspolitischen sowie ökonomischen Perspektiven aktuell: (1) Fachlich ist das mit der Tagung umspannte Themenfeld für den Laien nicht mehr zu überblicken. Der Bürger benötige aber zumindest Basiswissen, wolle er eine demokratisch-rechtsstaatlichen Zivilgesellschaft mündig mit gestalten. (2) Das heutige Wissen in den Bereichen Gentechnik und Medizintechnik ermöglicht es, menschliches Leben schier beliebig zu erzeugen und zu designen bzw. am Ende zu verkürzen oder zu verlängern. Dies wirft die ethischen Fragen auf, ob der Mensch tun soll, was er tun kann bzw. überhaupt wissen soll, was er nicht tun darf. (3) Die demografische Entwicklung in Deutschland mit einem Defizit an Geburten und einem großen Bevölkerungsanteil an Älteren lässt fragen, unter welchen Umständen in unserer Gesellschaft Kinder zur Welt kommen (müssen) bzw. ältere Menschen von der Allgemeinheit noch menschenwürdig versorgt werden (können). Hierbei sind gewiss auch ökonomische Aspekte (privater und volkswirtschaftlicher Art) von Bedeutung. Besonders hinsichtlich der ethischen und der politisch-gesellschaftlichen Dimensionen des Themas bilden Lebensanfang und -ende einen zusammenhängenden Komplex.
Im Einzelnen gilt es gewiss Vielerlei zu bedenken. Für den Anfang des individuellen menschlichen Lebens sind dies etwa folgende Möglichkeiten: Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen und dann nach gentechnischer Analyse auf ihre „Brauchbarkeit“ hin auszusortieren bzw. in die Gebärmutter einzusetzen; Embryonen im Mutterleib abzutreiben; Stammzellen von Embryonen zur Herstellung z. B. von Organen oder Blutplasma zur Heilung anderer zu verwenden; Schwangerschaft auf Probe; Vaterschaftstests durchzuführen oder zu unterlassen; ... Im Blick auf das Lebensende ist die Problematik nicht weniger komplex: Umgang mit den Möglichkeiten passiver und aktiver Sterbehilfe; letzter Wille und Patientenverfügungen; Hirnstrommessungen und ihre Konsequenzen; künstliche Beatmung; Umgang mit Komapatienten; eher medizintechnisch oder eher psychosozial orientierte Sterbebegleitung; ...
Es konnten ReferentInnen gewonnen werden, die die Thematik in eher wissenschaftlich-theoretischer und eher unter lebenspraktischen Perspektiven bedenken. Jeder von uns ist von diesem Thema persönlich und existentiell betroffen. Daher sollte die Tagung Zeit und Raum zum Gespräch mit den ReferentInnen und unter der Teilnehmerschaft bieten. Vielleicht gelingt es zudem, die Themen gemäß dem Selbstverständnis der „freien“ Akademie auch nonkonform abseits von mainstream-Ansätzen und nicht nur unter etablierten Fragestellungen zu beleuchten. Jedenfalls bietet die Tagung eine Mischung aus Fakten sowie Reflexionen über die politisch-gesellschaftliche und ethische Relevanz dieser Fakten, so dass die Teilnehmer in ihrer persönlichen Entscheidungskompetenz im Blick auf das Thema nach der Tagung hoffentlich mündiger sind als vorher.
Den Auftakt der Hauptreferate bildete ein Vortrag über Medizintechnik und Biotechnologie am Lebensanfang von Prof. Dr. Michael Mayer / Fachhochschule Jena. Sein Vortrag ist filmisch dokumentiert unter: http://www.youtube.com/watch?v=_uAoYlfWHuM&feature=context-cha
Er thematisierte besonders die künstliche Befruchtung, die vorgeburtliche Diagnostik und die Präimplantationsdiagnostik (PID). Im Blick auf die künstliche Befruchtung erging der Hinweis, dass es Abtreibung in der Menschheitsgeschichte schon immer gab, Biotechnik bei ungewollter Kinderlosigkeit aber neu sei. Die Invitro-Fertilisation („Retortenbabys“) gibt es seit 1978 und es leben bereits vier bis fünf Mio. entsprechend erzeugte Menschen weltweit, in Deutschland ca. 10.000. Ab der Einnistung des befruchteten Eies entspricht die künstliche Befruchtung dem natürlichen Vorgang. Ethische bzw. gesellschaftliche Herausforderungen sind hierbei besonders dann gegeben, wenn Vater und / oder Mutter Dritte sind bzw. das befruchtete Ei von einer Leihmutter ausgetragen wird. Bei der vorgeburtlichen Diagnostik gehe es primär nicht um die Frage, ob der Fötus abgetrieben oder ausgetragen werden soll, sondern um die frühe Behandlung einer eventuellen Gesundheitsstörung. Diese Diagnostik hilft oft, die werdenden Eltern zu beruhigen. Genetische Defekte sind heute besonders bedeutsam geworden, da andere Krankheiten am Lebensanfang weitgehend zurückgedrängt werden konnten. Trotzdem werde die Pränataldiagnostik heute nur bei ca. 8% der Schwangeren durchgeführt. Bis heute gibt es keine Gentherapie und es bleibt im Falle eines festgestellten Gendefektes lediglich die symptomatische Therapie. Daher sei Prävention besonders wichtig. Die Diagnostik ist immer mit Beratung verbunden, damit die Diagnostik nicht zu einem technischen Vorgang verkommt. Ein Einfluss dieser medizinischen Möglichkeit sei, dass sich 90% der Frauen mit einem Fötus, bei dem ein Down-Syndrom diagnostiziert wurde, für eine Abtreibung entscheiden, so dass Down-Embryonen zunehmend nicht mehr geboren werden. Das beinhaltet freilich auch erhebliche ethische und gesellschaftliche Probleme. Der gesellschaftliche Druck auf die Schwangere, kein behindertes Kind zu gebären, wächst; die Lebenssituation von Menschen mit Down-Syndrom kann durch den geschilderten Hintergrund bedrückend werden. Allerdings sei eine sinkende Akzeptanz von Behinderten wegen der Pränataldiagnostik zurzeit nicht belegbar. Mit der PID sol ein Defekt, der in einer Familie ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellt, bei der Fortpflanzung möglichst ausgeschlossen werden. Problematisch an der PID ist, dass sie auch zu anderen Zwecken verwendet werden kann. So kann man das Geschlecht des Fötus feststellen; man kann Embryonen als Gewebespender („Ersatzteillager“) nutzen; man kann alle genetischen Merkmale und nicht lediglich die krankhaften benennen, etwa die spätere Körpergröße. Auch deshalb ist in Deutschland die PID erst seit November 2011 erlaubt und zwar lediglich sehr eingeschränkt bei einer „genetischen Disposition“ mit „hohem Risiko“. Freilich ist der Bereich ethisch und gesellschaftlich hoch problematisch; z. B. könnte es schrittweise zu einer immer weitergehenden Anwendung kommen, etwa zur Selektion nach Huntington, einer Krankheit, die erst nach dem 40. Lebensjahr auftritt. Insgesamt bestach der Vortrag von Prof. Meyer durch seine hohe Sachlichkeit du Informationsdichte und die Kunst, keine ethischen oder politisch-gesellschaftlichen Richtungen nahelegen zu wollen. Dies hat sich bei den Hörern gewiss sehr positiv auf den Zuwachs an Mündigkeit ausgewirkt.
Im weiteren Tagungsverlauf stellte Olaf Christensen rechtliche und rechtsphilosophische Grundlagen von Biotechnologie im Humanbereich heraus. Der Volljurist mit Befähigung zum Richteramt sprach hierbei vor allem auf der Grundlage seiner Erfahrungen als Berufsbetreuer. Seine Ausführungen kreisten um die Themenfelder Lebensschutz und Sterbehilfe. Gemäß den UN-Menschenrechten habe jedermann das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Im Blick auf vorgeburtliches menschliches Sein oder im Blick auf Hirntote entstehe aber das Problem zu bestimmen, wer „jedermann“ und wer eine „Person“ ist. Entsprechend den UN-Rechten hat auch laut GG jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Spannend sei hierbei der weitere, ergänzende Satz, wonach in dieses Recht nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden dürfe. Beispiel für die Bedeutsamkeit dieses Zusatzes sei der sog. finale Rettungsschuss im kriminologischen Bereich. Wichtig sei auch, dass Grundrechte nicht gegeneinander abwägbar sind. So ist es z. B. verboten, hunderte von Personen in einem Flugzeug, das terroristisch missbraucht wird, zu opfern anstatt tausende Opfer nach Zerstörung eines Atomkraftwerkes in Kauf zu nehmen. Nach diesen rechtlichen Einblicken machte der Referent eher rechtsphilosophische Ausführungen. Was ist „Leben“? Freilich könne man allgemeine Merkmale wie Individualität und Stoffwechsel sowie individuelle Merkmale wie Personalität und Bewusstsein benennen. Doch: wann beginnt das Leben? Mit der Hirntätigkeit, da ja auch der Tod als Hirntod begriffen wird? Und: Ab wann ist der Mensch Grundrechtsträger? Zu bemerken ist, dass strafrechtlicher Lebensschutz nur für geborene Menschen bestehe. Abtreibung ist nicht Tötung oder Mord. Insgesamt strotze die Gesetzgebung vor unbestimmten Rechtsbegriffen und Rechtsregelungen. Hinsichtlich seines zweiten Hauptschlagwortes ‚Sterbehilfe‘ informierte Olaf Christensen darüber, dass in Deutschland die aktive Sterbehilfe verboten, die Beihilfe zur Selbsttötung aber erlaubt sei. Auch die Inkaufnahme der indirekten Sterbebeinflussung sei erlaubt, etwa wenn ein Arzt Morphium gegen Schmerzen gibt und damit den Tod z. B. durch Kreislaufversagen, hinnimmt. Allerdings müsse klar sein, dass es dem Arzt um Schmerzlinderung ging. Mit diesen Schlaglichtern war die Grenze der Sterbehilfe in Deutschland markiert. Patientenverfügungen haben eine hohe Verbindlichkeit und sind, besonders angesichts verschwimmender Grenzen zwischen Sterben und Tod, zu empfehlen. Abschließend beschrieb der Referent noch das Verhältnis von Medizin und Recht im Blick auf das Tagungsthema. Der Mediziner erwarte vom Juristen Klärung, dieser biete aber nur allgemeine Rahmen und muss die individuelle Umsetzung dem Mediziner überlassen. Freilich komme der Jurist dann, um den Mediziner zu überprüfen. Dies mache das Verhältnis beider Berufsgruppen schwierig, was aber von beiden Seiten auszuhalten sei.
Der Vortrag der Gynäkologin Dr. Wiltrud Mollenkopf bot für vieles bisher Gehörtes die praktischen Lebenserfahrungen. Demnach ist in der gynäkologischen weder Praxis die Betreuung von Schwangeren noch diejenige von Sterbenskranken eine große menschliche Herausforderung und keine vorwiegend technische Angelegenheit. Freilich sei Zeit ein höchst wertvolles und knappes Gut. Bei werdenden Eltern herrsche angesichts der heutigen diagnostischen Möglichkeiten oft hohe Verhaltensunsicherheit und entsprechend großer Gesprächs- und Beratungsbedarf. Doch bereits die heutige Komplexität des Alltags werde zum Problem für Eltern. Schon um Zeit und Gelegenheit zur Zeugung zu finden, brauche manches Paar heute Beratung. Entsprechend beratungsintensiv gehe es weiter bei Fragen zur Impfung, zur Ernährung und eben auch zum genetischen Bereich. Das Bestreben der Gynäkologin ist es dabei, dass die Schwangerschaft ihre Normalität behalten und dem Alltag angehören soll. Doch werde heute z. B. bereits in 25% aller Geburten ein Kaiserschnitt durchgeführt. Dies hängt mit der gesellschaftlichen Tendenz zum Meiden von Leiden / Schmerz zusammen, aber – jetzt aus Sicht des medizinischen Personals – auch mit der zunehmenden Verrechtlichung des Geburtsvorgangs. Ein großes Thema in der gynäkologischen Praxis sei auch Trisonomie 21. Bei der Gendiagnostik ist die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu beachten. So ist es im Normalfall (also bekanntes ohne „hohes Risiko“) nicht erlaubt zu untersuchen, ob ein Mensch später mit erhöhter Wahrscheinlichkeit z. B. Brustkrebs bekommen könnte. In der gynäkologischen Praxis ist der Betreuungsbedarf nicht nur am Lebensanfang, sondern auch im Umgang mit Sterbenskranken sehr hoch. Die Überlebensspanne weitet sich zunehmend aus, allerdings oft verbunden mit Einschränkungen der Lebensqualität. Dies schafft Betreuungsbedarf. Die Psychoonkologie für Kranke und Angehörige gewinnt daher zunehmend an Bedeutung. Für die Tagungsteilnehmer war das anschließende Gespräch mit Frau Dr. Mollenkopf sowie die Vertiefung dieser lebenspraktischen Themendimension in einer weiteren kleineren Gesprächsrunde, dort gemeinsam mit der nun folgenden Vortragenden, besonders wertvoll.
Mit den Folgen der künstlichen Befruchtung für Betroffene sowie für Gesellschaft und Politik, befasste sich die Journalistin Theresia de Jong aus Zetel. Sie begann ihren Vortrag zwar lyrisch mit dem Hesse-Gedicht. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...“, kam dann aber sehr schnell auf die menschlichen Probleme zu sprechen, welche diesen Zauber nachhaltig beeinträchtigen können und was das für die Gesellschaft, die Politik und besonders für das Individuum bedeutet. Als Psychologin legte sie dabei den Schwerpunkt nicht nur auf die medizinischen, sonder mehr noch auf die psychischen Folgen bei den betroffenen Mütter, dabei besonders auf solche, bei denen die Prozedur der künstlichen Befruchtung nicht zur Mutterschaft reichte. Statistisch gesehen kommt es bei ca. 78.000 Behandlungen auf ca. 11.000 Schwangerschaften aber nur zu ca. 7.000 Lebendgeburten, die Frühchen eingeschlossen. Die medizinischen Folgen sind vorrangig darin zu sehen, dass es über hormonelle Stimulation häufig zu einem Überstimulations-Syndrom kommt, was über Hitzewellen und Depressionen bis zum Tod der Frau führen kann. Besonders schwierig ist ein Ausstieg aus der Behandlung, mit vielfältigen psychischen Folgen. Zu dem Gefühl des Versagens kommt bei der Frau oft die Kränkung ihrer eigenen Identität. Während die künstliche Befruchtung oft von jahrelangen Enttäuschungen und Belastungen begleitet sei, ist die natürliche Zeugung von Glückshormonen geprägt. Auch wechsle bei einem lebendigen Zeugungsumfeld für den Fötus die Nährflüssigkeit und ist nicht statisch wie im Reagenzglas. Auch würde die Eizelle im Körper per chemische Reaktion das Sperma „auswählen“, während bei der künstlichen Befruchtung eine Eizelle „begattet“ wird. Daher ist es der Referenten wichtig, möglichst lange und intensiv die natürliche Zeugung anzustreben und die künstliche Befruchtung zu vermeiden. Hierfür sprächen auch die psychischen Folgen einer künstlichen Befruchtung. So seien künstlich konzipierte Kinder doppelt so oft behindert und sei bei ihnen die spätere Scheidungsrate signifikant höher. Ein Embryo sei ein kohärentes Ganzes. Seine Kooperation mit der Umwelt sei prägend. Die Biografie eines Menschen beginne bei weitem nicht erst mit seiner Geburt. Bei der künstlichen Befruchtung mit evtl. 3 Müttern und zwei Vätern bleibe von Identität und Ahnenreihen nicht mehr übrig. Wenn das Erbgut des Kindes mit denen der faktischen „Eltern“ nicht übereinstimme, sei Verstehen später erschwert. So appellierte die Referentin an die eigene Verantwortlichkeit, kritisch mit der Humangenetik am Lebensanfang umzugehen. Ihr lag nicht so sehr daran, Technik und Recht, also Wissen zu verbessern, sondern die Betroffenen mündig zu machen, das heißt, die Weisheit der Beteiligten zu fördern. Insgesamt ging es ihr darum, die mentalen, biografischen und familiären, also sozial-psychologischen Auswirkungen der Humangenetik bewusst zu machen. Schließlich wurde ausgiebig über die Optimierung Pränataler-Implantations-Diagnostik (PDI) diskutiert, bei der vor dem Einsetzen, das Embryo genetisch überprüft wird sowie über die Leihmutterschaft allgemein. Die Frage nach den übriggeblieben Embryonen wurde ebenso behandelt, wie deren rechtlicher Status, das Problem der Samenspendung in Bezug auf Inzest, die Bedeutung von Selbsthilfegruppen für Samenspender und Eizellenspenderinnen sowie deren medizinisches Risiko. Betroffen machte der abschließende Hinweis auf den Wunsch nach „Designer-Babys“ und die Unterscheidung in Fortpflanzungs- und Nutzembryonen.
Als Mahnung an die Gegenwart wollte der Tagungsleiter Dr. Dieter Fauth seinen Vortrag über eugenische NS-Verbrechen verstanden wissen. Der Hintergrund war zunächst die persönliche Erfahrung im Projekt „Stolpersteine“, mit dem ermordeter Euthanasieopfer gedacht wird und die Reaktion der Angehörigen dieser Ermordeten, die meistens diesem Vorhaben negativ gegenüberstehen. Zunächst wurde die verbrecherische NS-Bevölkerungspolitik und ihre rassistische Begründung gestreift und ausgeführt, wie die Nationalsozialisten mit einem vulgären Sozialdarwinismus dieses Handeln naturrechtlich und religiös zu begründen versuchten. Die naturrechtliche Begründung lautete „in der freien Natur gibt es kein Erbarmen für Schwache“ und die religiöse „ihr Gnadentod ist Erlösung“ oder es gilt, den „Gottesacker von diesem Unkraut zu säubern“. Es wurde auch der Umgang heutiger Nachfahren von Euthanasie-Opfer mit ihrer Familiengeschichte geschildert. Wichtig ist dabei der Hinweis, dass man durch Zwangssterilisation einer Ermordung entkommen konnte. Interessant dann der Aspekt, dass der Umgang mit der Ermordung von Juden im NS-Regime heute eher öffentlich und bei betroffenen Nachfahren eher diskutabel erscheint, als der Umgang mit Euthanasie-Verbrechen und dass die Öffentlichkeit dieser Problematik offener gegenübersteht als die Angehörigen betroffener Euthanasie-Opfer. Dabei spielen Schuldgefühle ebenso eine Rolle, wie die Angst als Träger einer Erbkrankheit verdächtigt zu werden. Einerseits ist die Verdrängung und Tabuisierung in der Gesellschaft zu kritisieren, andererseits die Reflexion zu begrüßen, die sich in einer strengeren Humangesetzgebung niederschlägt.
Was ein Hauptmoderator ist, erfuhr das Plenum durch André Martin, der als solcher angekündigt war. Er kam aus Berlin und organisiert dort Bürgerkonferenzen, in diesem Fall für High-Tech-Medizin. Nach der Vorstellung seiner Arbeit und besonders der Bürgerkonferenzen, kam er auf deren Ergebnisse zu sprechen. Er arbeitet am IFOK GmbH. Deren Auftraggeber ist die das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). In mehreren Bundesländern werden Diskussionsforen gebildet und für jeden Stützpunkt eine Anzahl Bürger jeden Alters und beiderlei Geschlechts nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die dann über ein vorgegebenes Thema diskutieren. Eine solche Bürgerkonferenz befasste sich auch mit Chancen und Risiken der High-Tech-Medizin. Die einzelnen Phasen dieses Bürgerdialogs sind 1. Ein Impulspapier auf dessen Grundlage sich ein offener Meinungsaustausch vollzieht, bei dem auch Experten hinzu gezogen werden können; 2. Ein Zwischenbericht; 3. Ein Bürger-Report; 4. Ergebnisse. Nicht nur das Procedere wurde nachvollziehbar erklärt und begründet, sondern auch die Ergebnisse ethischer, ökonomischer und rechtlicher Aspekte vorgestellt. Untersucht und diskutiert wurde in dieser Bürgerkonferenz sowohl die Intensiv- wie auch die Palliativmedizin und besonders auf die zunehmende Bedeutung letzterer hingewiesen. Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern wird die Gründung eines Büros für Entbürokratisierung vorgeschlagen und gefordert das Ansehen der Pflegeberufe zu stärken. Das erfordert neben einer besseren Bezahlung eine Imagekampagne und eine höhere Wertschätzungskultur für die in der Pflege tätigen Mitmenschen. Obwohl das Ganze auch ein Plädoyer für eine direkte Demokratie darstellte, erhob sich die Frage, ob sich der eminente Aufwand lohnt. Der Verdacht des „politischen Feigenblatts“ und einer „McKinseylogie“ konnte auch in der Diskussion nicht völlig beseitigt werden. Freilich ist die Grundidee der Bürgerkonferenz, Zukunftsthemen von Anfang an im Dialog mit der Bevölkerung zu entwickeln, zu begrüßen. Dies hat die Hochpolitik bei der Einrichtung der Atomenergie versäumt, was sich später in mangelnder Akzeptanz und manchen irrigen Entwicklungen äußerte, die heute durch politische Kehrtwenden „repariert“ werden sollen. Inzwischen gibt es auch andere Formen des Bürgerdialogs. Z. B. wurden vom Bildungsministerium des Bundes Busse eingerichtet, die mit einer Ausstellung zur Nano-Technologie und einem Physiker ausgestattet sind. Sie besuchen Schulen, um bei der Einrichtung dieser Zukunftstechnologie die junge Bevölkerung mit auf den Weg zu nehmen.
Mit ethischen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Aspekten der Pflegepraxis bei älteren Menschen befasste sich danach Prof. Dr. Stephan Dorschner von der Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen. Sein Referat „Das Lebensende aus der Sicht der Pflegewissenschaft“ leitete er ein mit dem Rilke-Gedicht: „Ich lebe mein Leben in wachsendem Ringen...“ und mit Bildern, die die Pflege „visualisierten“. Thematisiert wurde besonders Lebensende und Pflege. Auf diesem Gebiet habe heute ein 40jähriger nicht die Erfahrung wie vor 60 Jahren ein 14jähriger. Prof. Dorschner geht es auch darum, in guten Zeiten auf das Sterben vorzubereiten. Er stellte die Frage, wann das Sterben beginnt: mit der Geburt oder dem Einsetzen der Krankheit? Der Spruch: „Was eine Raupe als Lebensende kennt, nennt ein Weiser einen Schmetterling“ leitete über zur „Pflege-Weg-Kreuzung“. Der Patient und das Fachpersonal gehen einen Teil des Weges gemeinsam und trennen sich wieder. Damit ist die Pflege auch ein zwischenmenschlicher Prozess. Es komme auf die Kooperation von professioneller Pflege und Laienpflege (Angehörige) an. Wegen der zunehmenden Singularisierung der Gesellschaft falle der zweite Part oft schwer. Die Pflegeversicherung sehe die Familie als hauptsächliche Pflegende an; zwei Drittel der Menschen traue sich aber Angehörigenpflege nicht zu. Bemerkenswert war dem Referenten auch, dass ein Drittel der Pflegenden heute Männer sind. Pflegen sie anders? Brauchen sie andere Unterstützung als pflegende Frauen? Für humanes Sterben wird eine Kultur des Sterbens gefordert und damit auch professionelle Sterbebegleitung. Dabei erhebt sich jedoch die Frage, wieweit der Mensch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod hat. Mit der launischen Aussage, der Tod ist eine Rechnung, die jeder zahlt, wurde das Modell von Pflegestützpunkten vorgestellt und erörtert. Auch hier stand die Forderung nach einer Aufwertung des Pflegeberufes im Vordergrund mit dem Ergebnis, dass ein akademischer Ausbildungsweg vorgeschlagen wurde. Den Abschluss bildete eine Karikatur bei der neben einer Babyklappe auch eine Seniorenklappe zu sehen war.
Das Recht auf den selbstbestimmten Tod war dann Gegenstand des sehr fachkundigen Vortrags von Gerhard Rampp aus Augsburg, Vizepräsident der „Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben“. Einleitend wurde daraufhin gewiesen, dass neben der Abtreibung die Sterbehilfe nicht nur eine vieldiskutierte gesellschaftspolitische Streitfrage der letzten vier Jahrzehnte ist, sondern dass beides auch ideologisch geprägt sei. Engagiert und sehr überzeugend setzte sich der Referent für die Notwendigkeit einer Patientenverfügung ein und begründete dies auch mit zahlreichen Beispielen. Neben der unumstrittenen Sterbebegleitung machte er den Unterschied zwischen der kontrovers diskutierten Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Freitod transparent. Dabei wurde auf sechs unterschiedliche Definitionen eingegangen:
1. Sterbebegleitung, darunter wird die Zuwendung und die persönlich anteilnehmende Begleitung im Sterbeprozess verstanden.
2. Passive Sterbehilfe ist das Unterlassen lebensstützender Maßnahmen wie das Abstellen von Apparaten oder das Verabreichung von entsprechenden Medikamenten.
3. Indirekte Sterbehilfe, auch als Tötung auf Verlangen bezeichnet, ist z. B. die „ungewollte“ Inkaufnahme eines beschleunigten Todes durch höhere Dosen schmerzstillender Medikamenten.
4. Freitod, hier macht die Gesellschaft für humanes Sterben einen Unterschied zum Suizid. Freitod ist eine Selbsttötung als Abkürzung eines qualvollen Sterbeprozesses, während mit Suizid ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben, aus welchen Gründen auch immer bezeichnet wird.
5. Beihilfe zum Freitod - darunter wird die Besorgung von Hilfsmitteln für Personen verstanden, die selbst dazu nicht in der Lage sind. Die Tatherrschaft muss allerdings immer beim Betroffenen bleiben. Beihilfe zum Freitod ist, ebenso wie die vier voraus geschilderten Tatbestände, in Deutschland strafffrei.
6. Tötung auf Verlangen bzw. aktive Sterbehilfe, ist in einigen EU-Ländern auch strafffrei, aber in Deutschland nicht. Sie wird jedoch hier nur unter extrem seltenen Bedingungen diskutiert und liegt vor, wenn der Helfer bei der unmittelbaren Lebensbeendigung eingreift.
Spätestens bei dem Impulsreferat von Dr. phil. Erich Satter, „Die Axt des Holzfällers - Überlegungen zum Ich und einem Leben nach dem Tode“ - er hatte als einziger die Möglichkeit eines Kurzvortrags genutzt, - wurde klar, dass philosophische Aspekte etwas vernachlässigt blieben. Der Referent machte darauf aufmerksam, dass das Körperliche per Erbgut in den Nachkommen weiter wirkt. Insofern gibt es ein Weiterleben außerhalb der Individualität. Außer diesem individuellen Überleben bei Angehörigen gibt es ein überindividuelles Überleben durch die Wirkungen, die der Verstorbene, in der Kultur seiner Gesellschaft hinterlassen hat. So gibt es analog zu den Genen im individuellen Bereich Meme im überindividuellen Bereich. Erst wenn die Menschheit nicht mehr existiert, werden diese Wirkungen versiegen.
Abgerundet wurde die Tagung mit einem Akademie-Forum, an dem außer dem Präsidenten und dem Wissenschaftlichen Tagungsleiter die noch anwesenden Referenten teilnahmen. Hier hatten alle nochmals die Möglichkeit, offene Fragen zur Diskussion zu stellen, was dann auch mit den Fragen nach „guten Sitten“, „gesundem Volksempfinden“, dem Unterschied zwischen Moral und Ethik, über die Pflegesituation und der medizinischen Betreuung sowie den Frage nach Anfang und Ende des Lebens geschah. Ein Ergebnis war, dass hier die Wissenschaft zur Beantwortung dieser Fragen nicht ausreicht und eine allgemeine Verbindlichkeit schwierig ist, weil auch die jeweiligen kulturellen Kontexte eine Rolle spielen.
Resümee: Es war eine hervorragende Tagung, die fachkundige Auswahl der Referenten geglückt und die Durchführung erfreulich verlaufen. Bereichernd waren auch die Gesprächskreise, die ausnahmslos von Referenten geleitet wurden und vertiefende Impulse gaben. Zu der guten harmonischen Gesamtatmosphäre trug nicht nur das traditionelle morgendliche Singen unter der bewährten Leitung von Dietwart Inderfurth bei, sondern auch die unaufgeregte aber sehr effektive technische Tagungsleiteng von Alke Prem. Der musische Abend wurde von Theresia de Jong, Psychologin und Journalistin, welche zuvor über künstliche Befruchtung referierte, unter dem Thema „Musik als heilende Kraft“ gestaltet. Sie vermittelte „heilende Melodien“, auch als Seelenlieder bezeichnet, welche sie gemeinsam mit den Teilnehmern einstudierte und zum Vortrag brachte. Dabei schien die Grenze zur Esoterik manchmal etwas zu verschwimmen. Das war für die „Freigeister“ unter den „Freien Akademikern“ eine ganz neue Erfahrung, welcher man sich aber schmunzelnd aussetzte.
Ein Filmbericht über die Tagung ist zu finden unter:
http://www.youtube.com/watch?v=72T79AwGj68&feature=plcp
Die Beiträge werden in einem Tagungsband der Freien Akademie in Kürze erscheinen. Die Tagung wurde durch die Bundeszentrale für politische Bildung und das Paritätische Bildungswerk – Bundesverband gefördert.
Dr. Dieter Fauth / Dr. Erich Satter
Bericht über die Arbeitstagung der Freien Akademie vom 2. bis 5. Juni 2011 in der Frankenakademie Schloss Schney zum Thema:
„Gentechnik - Möglichkeiten und Grenzen“
Nach Begrüßung durch den Präsidenten der Freien Akademie, Dr. Volker Mueller, gedachten die Anwesenden des verstorbenen langjährigen Präsidenten und späteren Ehrenmitglieds der Freien Akademie, Prof. Dr.-Ing. Jörg Albertz (1936 - 2010), in einer Schweigeminute.
Jörg Albertz hat wie kein anderer die Freie Akademie geprägt sowie deren Zusammenhalt und zugleich den wissenschaftlichen Diskurs gefördert. Sein Tod ist menschlich und fachlich ein sehr großer Verlust, auch über die Freie Akademie hinaus.
Vortrag von Prof. Dr. Rolf Röber: Von Jean-Baptiste de Lamarck und Charles Darwin über Gregor Mendel bis James Watson und Francis Crick, und weiter?
Als Tagungsleiter begann Herr Röber mit der Frage, warum die Gentechnik in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
▪•Sind es mögliche von der Gentechnik ausgehende Gefahren?
▪•Was beunruhigt und dabei?
▪•Gibt es Aspekte des Nutzens dieser Techniken?
▪•Wozu ist die Gentechnik sonst noch gut?
Zudem wies er darauf hin, dass das Tagungsthema im Seminar schwerpunktmäßig am Beispiel der Pflanzen abgehandelt werden sollte, weil die Anwendung dieser Techniken von der Allgemeinheit dort besonders kritisch gesehen wird.
Züchtung durch Auslese allein sowie Kreuzung mit folgender Auslese an Pflanzen und Tieren gibt es schon lange. Die Auslese hat seit etwa 7000 Jahren zu zahlreichen Kulturpflanzen geführt und später in Verbindung mit der Kreuzung sogar zu neuen Arten und Sorten. Qualität und Erträge der Pflanzen sind durch diese Verfahren zudem signifikant erhöht worden. Die Möglichkeiten der Anwendung der Gentechnik zeigte er am Beispiel der Ausprägung roter Blütenfarben an Forsythien auf. Es folgte eine Betrachtung biologischer Fakten von der Entdeckung der Mendelschen Regeln als Grundlage der Kreuzungszüchtung bis hin zur Gentechnik.
Nach seiner Einleitung stellte er einige historische Fakten der Evolution vor, erläuterte die drei Mendelschen Regeln und legte dar, dass durch gezielte Anwendung der Unabhängigkeitsregel und schon bei nur zwei verschiedenen Merkmalen eines Lebewesens eine Neukombination bezüglich der beiden Merkmale in der zweiten Filialgeneration möglich ist. Mutationen sind aber auch zufällig durch Einwirkung der kosmischen Strahlung möglich. Die Natur braucht diese Variationen zu ihrer Weiterentwicklung und zur Anpassung an die variierenden natürlichen Verhältnisse. So können z.B. Arten aus völlig unterschiedlichen Familien durch sog. Konvergenz am selben Standort sehr ähnliche Formen ausbilden.
Im zweiten Teil seines Vortrages ging es Röber um die Veränderung an den Genen, die weder durch Umwelteinflüsse noch durch Auslese erfolgt sind. Grundlage ist die Erkenntnis: Es gibt einen einheitlichen Code für die Ausbildung und Entwicklung aller Lebewesen (Viren, Bakterien, Pflanzen, Tiere). Nur fünf organische Basen sind verantwortlich für den Aufbau organischer Substanz aus Aminosäuren. In der Gentechnik wird über den Eingriff in diesen Weg durch Menschenhand auf das Genom der Lebewesen gezielt Einfluss genommen.
Abschließend wandte er sich der Frage zu, wie diese „Evolution durch Menschenhand“ vonstattengeht und welchen Stellenwert die Gentechnik zukünftig einnehmen wird. Sein Vortrag schloss mit einem Blick auf die Zukunft und die möglichen Vor- und Nachteile der Gentechnik.
Vortrag von Frau Prof. Dr. Traud Winkelmann: Gentechnik bei Pflanzen – Methoden, Anwendungen und Chancen
Die Vortragende begann ihren sehr anschaulichen Grundlagenvortrag mit einer Zielformulierung: Die ZuhörerInnen sollen danach ihre eigene Meinung über Gentechnik auf eine festere Basis stellen können .
Nach einer Einführung in die Definition der Gentechnik, die eine dauerhafte Veränderung einer Pflanze beinhaltet, wurde aus einem Gesetzestext zitiert, wonach alles, was in der Natur nicht vorkommt, Gentechnik ist. Dabei bezeichnet man technisch eingebrachte Gene als sogenannte Transgene. Es gibt für die Gentechnik drei wesentliche Voraussetzungen: Vermehrung von DNA, Kleben von Abschnitten und die Einfügung von DNA-Abschnitten. Die Arbeitsweise in der Gentechnik ist dabei im Allgemeinen wie folgt: Gene isolieren, Integration in ein Genom und anschließende Analyse.
In einem nächsten Abschnitt referierte Frau Winkelmann dann über Methoden des Gen-Transfers. Dabei gibt es den direkten (z.B. mit einer Partikelkanone über kleine Teilchen aus Gold) als auch den indirekten Transfer (über Bakterien). Im Weiteren schilderte sie, wie man anschließend von der Basis eines Blattes zur ganzen Pflanze gelangen kann. Dabei werden nur die Sprosse, die das neue Gen tragen, selektiert. Dieses erfolgt über sogenannte Selektionsmarker.
Der Vortrag ging nun von der gentransformierten Pflanze zum Freilandversuch über. Dieses wird von der Risikoforschung begleitet. Ziele sind hier: Sicherheit, Wahlfreiheit (Kennzeichnung) und Koexistenz von Transgenen und genetisch nicht veränderten Pflanzen. Der Bereich der Anwendungen liegt vorwiegend im Nutzpflanzenbereich. Hier wurde auf sogenannte „Inputtraits“ (z.B. Krankheitsresistenz, Stressresistenz- Trockenstress), „Outputtraits“ (Qualitätsverbesserung, Lagerungsfähigkeit) als Züchtungshilfen (z.B. Blühverfrühung) eingegangen. Als Beispiele wurden Soja, Mais, Baumwolle und Raps erwähnt. Die Verfahren bieten große Chancen, sowohl einen Beitrag zur Ernährungssicherung der wachsenden Weltbevölkerung zu leisten als auch den Pestizideinsatz zu vermindern.
Vortrag von Prof. Dr. Jörg Kleiber: Gentechnik in der Medizin
Herr Kleiber richtete seinen Blick zunächst in die Historie und in die geschichtliche Entwicklung der Gentechnik. Diesen teilte er in die Abschnitte der frühen Entwicklungen der Genetik, in die Epoche nach 1970 und in das große Zeitalter der Gentechnik ein. In dieser Periode wurden grundlegende Schritte sowohl zur DNA-Klonierung als auch zur Humangenomsequenzierung gemacht.
Im Hauptteil seines Referates ging er auf Therapiefragen im Rahmen der Humanmedizin ein und stellte dieses anhand von Beispielen, wie die gentechnische Insulinproduktion dar. Die rekombinanten Verfahren mit Proteinen wurden gegenüber gestellt zu den üblichen chemisch-synthetischen Verfahren. So ist z.B. bei der Therapie von Diabetes-Erkrankungen zu wenig „natürliches“ Insulin vorhanden (bei ~240 Millionen Diabetikern weltweit). Gentechnische Verfahren werden zur Gewinnung von Insulin und auch zur Produktion anderer Pharmazeutika verwendet. Als weiteres Beispiel gab er die Herstellung von Herceptin (Trastuzumab) als Mittel gegen Brustkrebs an. Es wird nicht mit Bakterien erzeugt, sondern mit Säugetierzellen (Maus). Bei der Anwendung muss der Tumor vor der Behandlung analysiert werden, ob Rezeptoren an den Tumorzellen vorhanden sind, um die Antikörper erfolgreich wirken zu lassen. So unterstützt das Immunsystem die Zerstörung der Krebszelle und die Zelle wird empfindlicher für eine Behandlung mit Chemotherapeutika. Diese Diagnostik und Behandlung sind auf den einzelnen Patienten bezogen (personalisiert).
In seinem Vortrag ging Herr Kleiber auch auf die Stammzellentherapie ein. Bei dem Ansatz der „kausalen Therapie“ werden einzelne Gene substituiert. Dabei gesetzlich verboten ist nach wie vor die Manipulation von Keimzellen. Er stellte die invivo- und exvivo-Verfahren kurz vor und wies auf mögliche Gefahren und Probleme hin. Mit Hilfe dieses Verfahrens kann u.U. degeneriertes Gewebe (aus Stammzellen) ersetzt werden. Zum Anschluss gab er noch einen interessanten Ausblick in die Epigenetik.
Kurzreferat von Björn Grüning: Streptomyzeten
Streptomyzeten sind weit verbreitete Bodenbakterien mit einzelligen Strukturen. Sie haben einen robusten Sekundärstoffwechsel und stehen in symbiotischer Beziehung zu Bäumen, denen sie pathogene Pilze fernhalten. Aus diesen Bakterien werden mit Hilfe von Gentechnik Antibiotika und Bioalkohol hergestellt. Dieses könnte herkömmliche Verfahren zur Herstellung von Ethanol ersetzen – ebenso z.B. von Kerosin. Auch in der Abfallverwertung spielen diese Streptomyzeten eine große Rolle.
Kurzreferat von Dr. Dr. Jan Brettschneider: Biophilosophie der Gentechnik
Der Vortragende zeigte, wie in der Gentechnik mehrfach zwei bipolare Phänomene menschlichen Seins zum Tragen kommen. Als Beispiel sei nur die Dialektik zwischen Teilen und Ganzem genannt. Das Gen ist beides: Ganzes insofern, als Bestandteile (Stickstoffbasen, Pentosen, Phospat) immer im Komplex wirksam sind; Teil insofern, als ein DNA-Strang an bestimmter Stelle eingebettet ist.
Arbeitsgruppen
Die dann folgenden zwei Arbeitsgruppen ermöglichten es, mit den ReferentInnen weitere Fragen zu erörtern und die gesellschaftlichen, ökonomischen und ethischen Dimensionen der Gentechnik herauszuarbeiten. Möglicherweise beziehen sich die Hauptbedenken gegen die Gentechnik nicht auf die Technologie und die Produkte selbst, sondern auf deren Vermarktung durch Konzerne und die Verzweckung von Anbauflächen in Hungerländern in unvorstellbarer Größe durch diese Konzerne. Diese Böden fehlen dann der notleidenden Bevölkerung, die selbst über die Verwendung der Flächen bestimmen sollte und diese Flächen dann primär für den eigenen Bedarf und nicht für den Export zum Vorteil ausländischer Investoren nutzen würde.
Vortrag von Prof. Dr. Hans-Jörg Jacobsen: Nachhaltigkeit in der Pflanzenproduktion
Der Vortragende ging zu Beginn auf die Frage der Nachhaltigkeit ein, einen Begriff, der häufig missbraucht wird: Für Jacobsen ist die Balance aus Ökonomie, Ökologie und sozialer Akzeptanz eines Handelns entscheidend. Er stellte die Situationen in Europa und in den Entwicklungsländern gegenüber, z.B. sind bei uns die Preise niedrig, jedoch die Märkte abgeschlossen. In den Entwicklungsländern andererseits herrschen häufig Wasserknappheit, Überbevölkerung, werden Uraltpestizide nicht fachgerecht verwendet und veraltete Technologien eingesetzt.
So stehen wir vor enormen Herausforderungen: Um 2,3% wächst die Erdbevölkerung jährlich, ca. eine Milliarde Menschen hungern, eine weitere Milliarde ist mangelhaft ernährt (Proteinmangel) und jährlich verschwindet ca. 1% fruchtbarer Boden.
Sein erstes Fazit ist, dass der Planet Konstruktionsfehler hat: Das meiste Ackerland befindet sich v.a. in den Weltregionen, in denen die Bevölkerung nicht wächst. Daraus ergibt sich eine Intensivierung der Pflanzenproduktion. Außerdem wirkt sich die globale Erwärmung auf die Pflanzenproduktion aus. Jede landwirtschaftliche Aktivität beeinflusst das Ökosystem der Erde. Jacobsen hält es zudem für fahrlässig das Wissen und die Technologien zum Anbau von besonders ertragreichen aber transgenen Pflanzen den Entwicklungsländern vorzuenthalten, z.B. durch (in der EU nicht erlaubte) Genpatente.
Sein weiteres Fazit: Nachhaltigen Anbau nicht auf den sog. ökologischen Landbau reduzieren, da dieser etwa Landbau 40% weniger Produktivität erbringt.
Vortrag von Prof. Hans-Jörg Jacobsen: Probleme der Pflanzenproduktion und gentechnische Lösungen
Der Vortragende sprach sich dafür aus, Gentechnik im Pflanzenbau nur einzusetzen, wenn Probleme konventionell nicht lösbar sind. Es geht dabei um Problemlösungen, nicht um Technologien. Diesen Grundsatz vertrat später genau so die Agrobiologin und Genskeptikerin Dr. Martha Mertens.
Gentechnik wird zur Unkrautbekämpfung verwendet, indem die Nutzpflanze durch transgene Veränderungen gegen bestimmte Herbizide resistent gemacht wird. So sind Pflanzen einiger transgener Sojasorten resistent gegen Totalherbizide vom Typ Round-up. Eine Gefahr besteht darin, dass auch die Unkräuter resistent gegen bestimmte Herbizide werden können. Die Wirkstoffe der angewandten Herbizide sollten daher variiert werden. Dieses ist aber kein gentechnisches Problem, sondern ein Managementproblem.
Angesichts des Klimawandels und dem damit verbundenen lokalen und periodischen Wassermangel wäre es ein notwendiges Ziel, auf gentechnischem Weg Pflanzensorten mit mehr Erntegut bei geringerem Wasserbedarf zu erzeugen. Zum Beispiel wurde in Ägypten eine Ackerbohnensorte mit hoher Trockentoleranz gentechnisch durch Einbau eines Trockenstress-Gens aus der Kartoffel gezüchtet.
Einen dritten Anwendungsbereich der Gentechnik stellt die Schädlingsbekämpfung dar, z.B. bei der Bekämpfung des Maiswurzelbohrers. Hier ist die Zuhilfenahme der Gentechnik besonders schwierig, da der Schädling sich zunächst im Boden aufhält (Larven) und die Ausbringung von Insektiziden auf Böden wenig nachhaltig ist.
Bei Äpfeln kann dem Apfelschorf, einer Pilzkrankheit auf gentechnischem Weg begegnet werden, so dass das intensive Spritzen mit Kupferpräparaten nicht mehr notwendig ist. Kupfer baut sich im Boden zudem sehr langsam ab. Mit dem Gen wird außerdem ein Stoff (Anthocyan) gebildet, der auch vor Arteriosklerose schützen kann.
In der Summe kann Gentechnik also die Umwelt entlasten, Kosten (an Pflanzenschutzmitteln, an Arbeitskräften, etc.) sparen, den Ertrag steigern und die Qualität von Nahrungsmitteln erhöhen, eine bessere Anpassung an die Umwelt erwirken sowie Kleinbauern in Schwellen- und Drittländern zu höherem Einkommen verhelfen.
Ethisch gesehen, sollten wir nicht immer reflektieren, was passiert, wenn wir etwas tun, sondern besonders bedenken, was passiert, wenn wir etwas unterlassen. Landwirtschaft unter Verwendung gentechnisch positiv veränderter Pflanzen setzt auch Potenzial frei, Kinder zur Schule zu senden und Infrastruktur aufzubauen.
Hinsichtlich der Langzeitfolgen der Anwendung der Gentechnologie kann man wissenschaftlich freilich nichts ausschließen, sie sind jedoch eher sehr unwahrscheinlich. Ein Verbot des Einsatzes der Gentechnik dient einigen Politikern vornehmlich zur ihrer populistischen Profilierung.
Vortrag von Dr. Martha Mertens: Risiken der Agrogentechnik
Die Agrobiologin und Engagierte im BUND wies auf drei Problembereiche der Gentechnologie hin: (1) jene beim Gentransfer, (2) die ökologischen Risiken und (3) die sozio-ökonomischen Risiken (national und global).
Zu (1): Hier ist die Irreversibilität des Eingriffs in Erbmaterial zu erwähnen, ohne das Genom vollständig zu kennen. Auch können Freilandbedingungen in einer anderen Weltregion anders sein und wirken als am Ort der Entwicklung. Ebenfalls gibt es unerwartete Effekte. Zum Beispiel zeigt mehltauresistenter Weizen eine höhere Empfindlichkeit gegen Mutterkorn und bietet deutlich weniger Ertrag. Weiterhin sind die Gesundheitsrisiken für den Menschen zu nennen: neue Allergien, Antibiotikaresistenzen. Der gentechnisch bedingte erhöhte Einsatz von „Round-up“-Produkten könnte menschliche Zellen schädigen (Rückstandsprobleme). Toxische Effekte auf Tier und Mensch, besonders im embryonalen Zustand, sind zu befürchten. Die Studien zur Lebensmittelsicherheit sind oft nicht von unabhängigen Stellen, sondern z.B. von Firmen in Auftrag gegeben worden.
Zu (2): Die genannte Irreversibilität steht in Spannung zum Vorsorgeprinzip für künftige Generationen. Beim gemischten Anbau ist die Übertragung von Transgenen auf andere Organismen möglich. Da die Herbizid- und Insektenresistenz im gentechnischen Bereich sehr hoch ist, steigert dies u.U. den Herbizidverbrauch. Dies hat negative Wirkungen auf die Artenvielfalt bei Pflanzen und Tier. Dies wiederum wirkt sich negativ auf Nahrungsketten, Bienenhaltung, etc. aus. Round-up beeinträchtigt auch die Bodenflora und damit die Bodenfruchtbarkeit. Sekundärschädlinge treten auf, denn durch die jetzt sehr gezielten Pestizideinsätze bleiben weitere Schädlinge unbehelligt.
Zu (3): Gentechnologische Landwirtschaft wird oft im großen Stil betrieben und bedeutet zunehmende Abholzung von (Regen)-Wäldern und Enteignung sowie Vertreibung von Kleinbauern. Über Monokulturen, die durch transgene resistente Pflanzen in noch größerem Maße möglich sind, werden oft ganze Nationen am Tropf von korrupten Regierungen und Konzernen gehalten. Patente auf gentechnisch verändertes Saatgut, etc. behindern frei zugängliches Wissen, dessen Verfügbarkeit und frei zugängliches Saatgut.
Insgesamt plädiert die Vortragende für mehr biologischen Landbau, der in heute verarmten Ländern sowieso mehr Potenzial hat als bei uns.
Kurzreferat von Peter Reuther: Das Problem der Genetik in der literarischen Überhöhung
Vorgetragen wird von einer Gesellschaft mit menschlichen Klonen, in der die Mitglieder darauf hin betrachtet werden, ob sie „sich rechnen“. „Dabei steht der Mensch mit seinem Streben, den wirtschaftlichen Erfolg über die Ethik zu stellen, als Ausgangspunkt.“ Reuther weist insbesondere auf die denkbaren Schäden hin, die entstehen, wenn die gesellschaftlichen Zustände mehr zulassen als sozial verträglich. Er zitierte dazu einigen Passagen aus seiner Publikation „Das Experiment“.
Kurzreferat von Prof. Dr. Rolf Röber: Monsanto und andere…? oder Mastvieh in Deutschland
Die Sojaproduktion auch für die Aufzucht von Mastvieh bei uns geschieht vornehmlich großflächig in Ländern, die über die hinreichenden Agrarflächen verfügen. Interessanterweise gehören diese großen Flächen i.d.R. nicht ortsansässigen Bauern sondern Agrarkonzernen mit Geschäftssitz auch in Europa. Hinzu kommt, dass Ausgang der Sojaproduktion heutzutage >80% mit Unkrautresistenzgenen bearbeitetes Saatgut ist, um der Unkrautplage auf den Feldern in den zuvor genannten Ländern Herr zu werden.
Das gewonnene Sojamehl wird einerseits direkt für Nahrungsmittel verwendet, sei es als Geschmacksverstärker oder als Bioboulette (Tofu aus Sojamilch), in der Hauptsache jedoch als Futtermittel für die Tiermast zur Fleischproduktion, so auch bei uns. Der Fleischverzehr in 2009 betrug ~88,2 kg/Person+Jahr, d.i. ~1,7 kg/Person+Woche. Mäßiger Fleischverzehr von etwa 200 g/Person+Woche, wie in maßvolleren Zeiten in Form des Sonntagsbratens üblich, sollte doch wohl ausreichen, oder?
Arbeitsgruppen
In den anschließenden zwei Arbeitsgruppen wurden die bisherigen Erkenntnisse vertieft diskutiert. Die Tagungsteilnehmer haben sehr offen und kritisch eine gentechnisch veränderte Pflanzenproduktion der Zukunft angesprochen. Verständnisfragen wurden von den jeweils anwesenden ReferentInnen bereitwillig beantwortet und die Antworten interpretiert.
Vortrag von Frau Prof. Dr. Evelyn Klocke: Gentechnik und Lebensmittel
1994 war eine Tomatensorte das erste gentechnisch veränderte Gemüse. Es gelang, die Reife zu verzögern, so dass die Tomaten auf dem Transport nicht weiter nachreiften und nicht matschig wurden. 1998 kamen dann amerikanische Süßigkeiten mit transgenem Mais auf den Markt. Heute gibt es in Deutschland direkte transgene Produkte, wie Obst, Gemüse, Fleisch oder Fisch nicht, aber verarbeitet in Lebensmitteln schon. Dann besteht allerdings Kennzeichnungspflicht ab >0,9% gentechnisch veränderte Bestandteile.
Die unerwünschte Antibiotikaresistenz bei Bakterien ist für den Menschen wohl kaum mit großen Gefahren verbunden. Der Anstieg von Resistenzen nach Einbau von Antibiotika-Genen in Pflanzen ist nämlich bislang nicht nachgewiesen worden.
Lebensmittelallergien stellen objektiv kein gentechnisch spezifisches Risiko dar. Man kann sogar durch Gentechnologie allergen wirkende Lebensmittel entschärfen, z.B. beim glutenfreien Weizen geschehen. Pflanzliche Nahrungsmittel können durch Gentechnologie generell verbessert werden, wie z.B. „Golden Rice“, der mit Vitamin A angereichert ist.
Seit 2004 ist die Zulassung von transgenen Lebensmitteln auf EU-Ebene angesiedelt. Zugelassen werden die Pflanzen (z.B. transgener Mais), nicht z.B. die Schokolade aus dieser Pflanze. Bisher sind als Lebensmittel nur transgener Mais zum Verzehr zugelassen, für den Anbau Mais und Kartoffeln und als Futtermittel (Einfuhr) am meisten v.a. Soja.
Gekennzeichnet werden muss, was direkt aus transgenen Pflanzen, nicht was mit Hilfe transgener Pflanzen hergestellt wird, z.B. Fleisch von Tieren, die mit transgenen Pflanzen gefüttert wurden. 75% des Käses in Deutschland ist mit transgen hergestelltem Labenzym produziert worden, das sonst aus den Mägen von sehr jungen Kälbern gewonnen werden müsste.
Die Bezeichnung „ohne Gentechnik“ ist nicht geschützt und sagt nichts aus. Nur umgekehrt: „Hergestellt mit gentechnisch veränderten Pflanzen ...“ hat verbindlichen Aussagewert.
Gentechnik in Humanmedizin (Arzneien) ist viel mehr akzeptiert und verbreitet als bei Lebensmitteln. Zum Schluss nannte die Vortragende noch zwei wichtige Internetadressen für besonders Interessierte: www.transgen.de und www.biosicherheit.de.
Musischer Abend
Abschließend sei noch der Musische Abend am Samstag, 04.06.2011, hervorgehoben, den Dietwart Inderfurth (Violoncello), Wiltrud Inderfurth (Violine, Altblockflöte) und Sohn Till Menke (Moderation) sowie Gregor Verlande (Pianoforte) der Tagungsgesellschaft boten. Vorgetragen wurden Stücke von Vivaldi, Schubert und Beethoven, aber auch solche von eher selten gehörten Komponisten wie Hermann Berens (1826-1880), Wolfgang Camphausen, Hugo Salus (1866-1929) und Erkki Melartin (1875-1937). Mit gekonnter Moderation verstand es Till Menke etwaige Bildungslücken der Zuhörerschaft auf humorvolle Art zu schließen.
Akademieforum
Zum Abschluss der Tagung zur Gentechnik wurde traditionell das Akademieforum durchgeführt, das der Präsident Dr. Volker Muellermoderierte. Dabei wurden vor allem Grenzen der Gentechnik diskutiert – wie Humangenom, Ethik, Menschenwürde und Humanismus, ein technischer und militärischer Missbrauch, die Auskreuzung des Transgens, Tierexperimente, die demokratische Legitimation von Kritikern und von der Wirtschaft sowie die Verantwortung der Wissenschaftler und die Kontrolle der Gentechnik. Aber auch die Chancen und Vorteile einer kontrollierten Anwendung gentechnischer Verfahren und ihre gesellschaftspolitische Bedeutung wurden am Ende nochmals zusammengefasst.
Bewertung
Die Tagung wurde von den TeilnehmerInnen als sehr erfolgreich und bereichernd eingeschätzt.
Dieter Fauth/Winfried Halle
Band 31
Gentechnik - Möglichkeiten und Grenzen
Die Möglichkeiten und Grenzen der Gentechnik werden nicht allein in der Wissenschaft, sondern gerade auch in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert. Erzeugen Wissenschaftler Zellen mit synthetischem Erbgut, vollziehen sie quasi einen Schöpfungsakt? Kann die Biologie nun klären, was die Natur des Lebens ist? Welche Fragen stellen sich im Zusammenhang mit der Verwendung synthetischen Erbgutes noch? Was bedeutet die Gentechnik für den Menschen und das Menschenbild selbst?
Was ist also Gentechnik, wie ist sie zu verstehen und zu bewerten? Was kann sie? Was sollte sie möglicherweise nicht tun? In diesem Kontext wird auch der Einfluss von Ideologien, Religionen, Weltanschauungen oder Moral deutlich. Offenbar hat die Gentechnik großartige Möglichkeiten. Ihre Grenzen liegen vermutlich nicht so sehr im technischen Bereich.
Der von Rolf Röber herausgegebene Band 31 der Schriftenreihe der FREIEN AKADEMIE dokumentiert die Vorträge bzw. Ergebnisse der wissenschaftlichen Tagung, die im Mai 2011, in der Frankenakademie Schloss Schney stattfand.
153 Seiten | 2012 | 978-3-923834-29-7 | 15,00 €
Inhalt:
Volker Mueller: Vorwort
Rolf Röber: Von Jean-Baptiste de Lamarck und Charles Darwin über Gregor Mendel bis James Watson und Francis Crick, und weiter?
Traud Winkelmann: Gentechnik bei Pflanzen – Methoden, Anwendungen und Chancen
Jörg Kleiber: Gentechnik in der Medizin
Hans-Jörg Jacobsen: Probleme der Pflanzenproduktion und gentechnische Lösungen: Beiträge zur Nachhaltigkeit
Hans-Jörg Jacobsen: Gentechnik in der Landwirtschaft: Ein Beitrag zur Nachhaltigkeit!
Martha Mertens: Risiken der Agrogentechnik
Evelyn Klocke: Gentechnik und Lebensmittel. Ein Diskurs über unsere tägliche Portion Gene
Jan Bretschneider: Eine kleine Philosophie des Gens
Peter Reuther: Das Problem der Genetik aus der Sicht der Literatur