Tagungsbericht 2025

Die Freie Akademie hat ihre wissenschaftliche Tagung vom 29. bis 31. Mai 2025 in der Frankenakademie Schloss Schney zum Thema „Illusion Gerechtigkeit?“ erfolgreich durchgeführt. Der Präsident der Freien Akademie, Herr Dr. Volker Mueller, hat die Tagung eröffnet und sie wissenschaftlich geleitet. In seiner Einführung stellte er die Frage danach, ob die Gerechtigkeit eine Illusion sei, und stellte einige Aspekte dazu dar.

Prof. Dr. Pierre-Yves Modicom sprach über das Verhältnis von Gerechtigkeit und Demokratie in modernen Gesellschaften. Das Gerechtigkeitsideal habe sich seit der Antike grundlegend gewandelt. Zwar habe schon Aristoteles verschiedene Formen der Gerechtigkeit wie die strafende, die gegenseitige und die wiederherstellende Gerechtigkeit unterschieden, bei der Verteilungsgerechtigkeit aber als Maßstab der Angemessenheit das Verdienst angesehen. Hierauf beruhten seines Erachtens die Rechtmäßigkeit der Sklaverei, die Herrschaftsprivilegien des Adels und die politische Rechtlosigkeit der Frauen. Das in Deutschland bis zum Ende des Ersten Weltkrieges bestehende Klassenwahlrecht, aber auch die Gleichheit vor dem Gesetz war bzw. ist ein Erbe der Antike. Heute erwarten wir Gerechtigkeit insbesondere in prozeduraler Hinsicht, d.h. bei staatlichen Verfahren. Einer der Väter des modernen Gerechtigkeitsverständnisses sei Thomas Hobbes mit seinem Argument gewesen, dass der Kriegszustand deshalb so schwer zu beenden sei, weil jeder Mensch für jeden anderen gleich gefährlich sei. Nicht nur Kraft, sondern auch Schläue und Verschwörung könnten Mittel im Bürgerkrieg sein. Dass jeder Macht über jeden sucht, führe dazu, dass alle gemeinsam die Regierung autorisieren müssen. Auch bei Marx finde sich eine Wurzel des modernen Gerechtigkeitsverständnisses, nämlich in seinen Forderungen, dass die Beiträge beim gemeinschaftlichen Handeln nach den Fähigkeiten und die Bezüge der Einzelnen von diesen Beiträgen nach ihren Bedürfnissen bemessen sein sollten. Im Sinne dieser Maßstäbe haben nach Marx alle dieselben Rechte und sind alle beteiligt. Schon nach der herrschenden Meinung der griechischen Antike setzt Gerechtigkeit Öffentlichkeit von Meinungsäußerungen und Verhandlungen voraus. Kant lehnt in „Zum ewigen Frieden“ Geheimregeln als unverträglich mit der Republik ab. Es scheine hier ein Spiegelverhältnis zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit zu bestehen. Wahrheit könne als Norm der Anpassung unserer Sprache an die Welt verstanden werden, Gerechtigkeit als die der Welt an unsere Normen. Aktuell werde sogar von einer epistemischen Gerechtigkeit gesprochen, gegen die mit der Weigerung zuzuhören oder Wahrheiten zu akzeptieren verstoßen werde. Ignoranz sei damit als eine Form der Unterdrückung entdeckt. „Truth and Justice!“ sei die Parole der Forderung nach Aufklärung des Todes von George Floyd gewesen.

Christian Michelsen referierte über die Lehre der Sophisten, die Forderung nach Gerechtigkeit sei ein rein rhetorisches Herrschaftsinstrument. Der griechischen Mythologie nach haben die olympischen Götter mit dem Sieg über die Titanen auf Erden eine Wohlordnung (Eunomia) und in der Gesellschaft einen Zustand der Zivilisation geschaffen. Wie es in Hesiods Theogonie heißt, fressen Tiere einander, wohingegen dem Menschen das Instrument des Rechts gegeben sei. Wer gerecht handelt, handelt dementsprechend göttergemäß im Sinne der Minimalmoral des Willkürverbots „neminem laede!“. Im Verlauf der Entwicklung in Griechenland ist das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft dann aber problematisch geworden. Die Entstehung der Demokratie war eine Reaktion hierauf. Gesetzgebung und Rechtsprechung fanden jetzt auf der Volksversammlung und im Volksgericht öffentlich statt, und um sich hier durchzusetzen, brauchte man Argumente. Die Sophisten unterrichteten gegen Bezahlung in der Kunst, Argumente vorzutragen und auf sie zu entgegnen. Sie hatten keineswegs einen schlechten Ruf, sondern galten als kundige Männer. Zentrale Lehrsätze waren z.B., dass man alles von zwei Seiten betrachten kann oder dass das vermeintliche Sein oft ein bloßes Scheinen ist. Sie machten auf die Relativität der Tatsachen zur Perspektive des Betrachters und auf die Subjektivität von Wertungen aufmerksam. Götter seien Personalisierungen von Idealen dessen, was den Menschen nützlich erscheint. Hegel vergleicht die Sophisten daher mit den Aufklärern der Neuzeit. Der Sophist Antiphon (5. Jh. v.Chr.) formulierte bereits den rechtspositivistischen Standpunkt: Staatsgesetze sind willkürlich, nur die der Natur notwendig. Daher solle man das Recht nur vor Zeugen einhalten, sonst die der Natur; und natürlich sei es für den Menschen nach Lust zu streben. Zwar gebe es von Natur aus Starke und Schwache, aber die Sklavenhaltung, die Ungleichheit der Frauen und die der Barbaren beruhten auf einer unnatürlichen Übereinkunft. Der als Gegner Platons in dessen Dialog „Gorgias“ auftretende Sophist Kallikles dagegen propagierte das Recht des Stärkeren: Das von Natur aus Schwächere sei auch das Schlechtere. Platons Prinzip „Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun“ sei falsch. Zaubersprüche und Blendwerk seien Moral und Gesetze, erfunden von den Schwachen, um sich vor den Starken zu schützen. Diese Deutung wurde von dem Sophisten Thrasymachos abgelehnt und durch eine radikalere Entlarvung ersetzt: Die Forderung nach Gerechtigkeit sei sogar ein Mittel des Stärkeren, seine Opfer zu verdummen. Als manipulative Illusion werde sie dem Volke gepredigt. Nur wo Herrschaft existiert, habe die Gerechtigkeit als das Ideal von Gewaltverhältnissen eine Funktion. Dies wurde von Marx wieder aufgenommen, in dessen idealer Gesellschaft nicht Gerechtigkeit, sondern Gewaltfreiheit herrscht.

Prof. Dr. Jan Sieckmann analysierte das Gerechtigkeitsprinzip aus juristischer Perspektive und kam zu dem Ergebnis, dass das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 zwar einen einklagbaren Anspruch gewährleistet, sich für sich genommen aber nur auf die Berücksichtigung und Anerkennung bei Verfahren bezieht. Nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen könnten demnach als ungerecht bezeichnet werden. Eine materielle Gerechtigkeit hingegen als die richtige Verteilung von Gütern oder Leistungen lasse sich mit ihm nicht begründen. Materielle Gerechtigkeit sei als die richtige Verteilung oder Zuordnung von Gütern, einschließlich der Regelung von Rechtsbeziehungen zu definieren, und die zu ihrer Umsetzung erforderlichen Verteilungskriterien seien unbestimmt und könnten sogar in Konflikt miteinander stehen. Die Verteilung nach Leistungsanteilen bei der gemeinschaftlichen Arbeit sei zwar grundsätzlich gerechtfertigt, werfe aber die Frage der Bemessung dieser Anteile auf und impliziere eine Eigentumstheorie. Bedürftigkeit sei kein originäres Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit, sondern könne auf der Grundlage der Menschenrechte Bedeutung erlangen. Und auch die Forderung nach Chancengleichheit sei nur aufgrund des Gebots der Ermöglichung persönlicher Autonomie zu rechtfertigen. Die Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens seien aber schwer auf Kriterien zu bringen. Alle Verteilungsgesichtspunkte könnten miteinander kollidieren, und letztlich könne es sogar nötig sein, das Gerechtigkeitsprinzip selbst gegen andere wie z.B. das Prinzip der Rechtssicherheit oder des Friedens abzuwägen. Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit seien also politische Forderungen, da sie auf materielle Gründe rekurrieren und nicht nur prozedurale Gleichbehandlung zum Inhalt haben.

Dr. Thomas Scheffer leitete den ersten Arbeitskreis mit einem Impulsvortrag zur Gleichheit vor dem Gesetz in der Rechtsprechung ein. Aus dem Anspruch auf Gleichbehandlung aus Art. 3 GG allein ergeben sich nach Rechtsprechung des BVerfG keine Ansprüche auf staatliche Leistungen. In Verbindung mit anderen Grundrechten sei dies aber durchaus der Fall. Mit dem Anspruch auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 und dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 hat das Gericht den Anspruch auf das Existenzminimum bergründet. Auch einfachrechtliche Gesetze z.B. zum numerus clausus oder zur Emissionsminderung sind Grundlagen für ein erweitertes Recht auf Hochschulzugang oder auf eine gleichmäßigere Verteilung der Minderungen über die Generationen geworden. In der anschließenden Diskussion wurden als verfassungsmäßige Anspruchsgrundlagen das Recht auf Schutz des Eigentums und das Recht auf eine steuerliche Belastung der Bürger angeführt, die ihrer Leistungsfähigkeit entspricht. Diese Rechte seien so fundamental, dass sie als Grundlagen für Gerechtigkeitsforderungen fungieren, aber kaum in Erscheinung treten. Sie ließen sich gesellschaftsvertragstheoretisch begründen und seien keineswegs alltagspolitischer Natur.

In einem zweiten, offenen Arbeitskreis haben die Teilnehmenden historische und aktuelle rechtsphilosophische und ethische Gesichtspunkte der Gerechtigkeit diskutiert.

Dr. Gunter Willing berichtete über Recht und Gerechtigkeit in der thailändischen und der philippinischen Gesellschaft. Für Thailand sei spezifisch, dass sich vormoderne und moderne politische Geschichte vermischen. Das Königreich konnte die koloniale Inbesitznahme umgehen. Westliche Rechtsauffassungen wurden daher gesellschaftlich abgepuffert und zeitlich gestreckt eingeführt. Die politische Kultur des Landes ist folglich seit der Sukothai-Periode (13. bis 15. Jahrhundert u.Z.) immer noch sehr hierarchisch, autoritär  und klientelistisch geprägt. Große Teile der urbanen Eliten Thailands, vor allem die höheren Ränge der Armee, können sich Gerechtigkeit für den Einzelnen und Existenz der Thai-Nation nur in den ungleichen Abhängigkeitsverhältnissen vorstellen, die angeblich im buddhistischen Kosmos zeitlos eingebettet sind.  Immer wieder haben marginalisierte Gruppen der thailändischen Gesellschaft gegen ihre juristische und soziale Ungleichbehandlung gekämpft. Das Militär hat diese Emanzipationskämpfe oft blutig unterdrückt, indem es demokratische Rechte durch Erklärung des Kriegsrechtes aufhob. In Thailands Geschichte sind die zahlreichen tatsächlichen und versuchten Militärputsche emblematisch für die chronische
Instabilität des politischen Systems des Landes. Auf den Philippinen haben einige politisch-ökonomisch mächtige Familiendynastien eine sozial  kaum durchlässige „Elite-Demokratie“ entwickelt. Diese Familien setzen mit Hilfe ihrer Privatarmeen ihre Interessen durch. Oppositionspolitiker, Umweltschützer, kleinbäuerliche Gemeinschaften oder investigative Pressevertreter leben gefährlich, wenn sie sich gegen diese Familien positionieren. Der Schatten der spanischen und US-amerikanischen Kolonialherrschaft mit ihren kolonialen Eliten, die brutal alle antikolonialen Bestrebungen unterdrückt hatten, lastet immer noch schwer auf der philippinischen Gesellschaft.

Renate Bauer referierte über den Wunsch nach Gerechtigkeit als Form der moralischen Motivation. Ein Indiz für ein verbreitetes Gerechtigkeitsempfinden lieferten die Ergebnisse des sog. Ultimatumspiels: Ein Spieler soll eine Geldsumme mit einem anderen teilen, darf seinen Anteil aber nur behalten, wenn der andere den gebotenen Anteil annimmt. Bei einmalige Spiel und einfachem Nutzenkalkül müsste eigentlich jedes Angebot angenommen werden. Ganz überwiegend würden aber Angebote unter 30% abgelehnt. Die Pauschalität dieser Höhe lasse sich wohl damit erklären, dass die Annahme vom sozialen Vergleich des Empfängers mit dem Anbieter abhängt, da ein Verdienst der Spieler am Zustandekommen der Summe nicht festgestellt werden kann. Piaget und Kohlberg haben die Entwicklung des Gerechtigkeitsempfindens bei der Persönlichkeitsbildung untersucht und ähnliche Stufen unterschieden: von der kindlichen Überzeugung „Strafe muss sein!“ über die Orientierung an sozialen Konventionen oder gegebenen Gesetzen bis hin zur Argumentation mit universalistischen Prinzipien wie einem möglichen Sozialvertrag. Kinder ab 8 Jahren berücksichtigen das Verdienst als Kriterium, Adoleszente das Wohl anderer, die weniger aggressiven von ihnen in höherem Maße. Erzieherisch scheinen Zuneigung, Vorbildverhalten, und die Bereitschaft zur Begründung von Ungleichbehandlungen förderlich für die Motivation durch Gerechtigkeitserwägungen zu sein. Begründung fördert bei Notwendigkeit von Einsparungen auch die Betriebssolidarität. In kollektivistischen Gesellschaften orientiert man sich bei Knappheit eher an der Bedürftigkeit der Betroffenen. Bei Verteilungsfragen werden i.d.R. Gruppeninteressen bevorzugt. Im Allgemeinen will man niemandem schaden, keinesfalls aber zu den schlechter Gestellten gehören, und im Zweifelsfall soll alles bleiben, wie es ist. Wiedergutmachende Gerechtigkeit wird i.d.R. den Gerichten überlassen. Nur wenn dieser Weg nicht gangbar ist, wird Rache befürwortet. Expertenvorschläge zu Verteilungsfragen werden eher skeptisch gesehen, was für Bürgerbeteiligung bei staatlichen Vorhaben spreche.

Dr. Martin Scheele berichtete über die Schwierigkeiten, Gerechtigkeit im Umgang mit psychisch kranken Straftätern zu üben. Schon Hippokrates, Asklepios und Aristoteles hätten es als Krankheit erkannt, nicht Herr seiner Sinne zu sein. Die ersten „Irrenanstalten“ sind in Europa zu Beginn der Neuzeit gegründet worden; und die erste forensische Spezialklinik für Straftäter wurde in Deutschland 1876 eröffnet. 1933 wurde der Maßregelvollzug ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Wesentliche Passagen dieses Gesetzes sind auch heute noch in Kraft. Basis für die Zwangseinweisung in die psychiatrische Behandlung ist der § 63 StGB zur Schuldunfähigkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten die Euthanasieprogramme der Nazis mit zwangsweiser Ermordung, Kastration und Sterilisation beendet. In der DDR wurde 1968 der Maßregelvollzug abgeschafft. Psychisch kranke Straftäter wurden dann in denselben Krankenhäusern behandelt wie alle anderen psychisch Erkrankten. Und im Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR wurde 1990 der Maßregelvollzug festgeschrieben und in den neuen Bundesländern wieder eingeführt. Heute gibt es in der BRD 78 Psychiatrien für Straftäter. Von den im Jahr 2024 internierten ca. 10.000 Personen waren nur 7% Frauen. Die Aufenthaltsdauer beträgt durchschnittlich etwa 10 Jahre. Innerhalb von fünf Jahren nach der Entlassung werden 30% bis 40% rückfällig, binnen 10 Jahren ca. 50%. Das ist aber weniger als bei gesunden Straftätern. Probleme ergeben sich schon aus der Unterversorgung. Nur die Hälfte der Kliniken verfügen über Einzelzimmer, was bedeute, dass viele Kranke keine Privatsphäre besitzen. Die gemeinschaftliche Unterbringung führt häufig zum sog. Expeditionskollaps. Auch therapeutisch sind die Insassen oft unterversorgt. Ob psychisch kranke Straftäter aus den Krankenhäusern des Maßregelvollzugs entlassen werden, hängt von Gutachten ab, die die Wahrscheinlichkeit einer erneute kriminelle Tat einschätzen. Die Begutachtung erfolgt zunächst nach vier Jahren, dann alle zwei Jahre. Fällt sie nicht positiv aus, verlängert sich die Internierung, sodass die Entlassung für den Internierten nicht klar absehbar ist. Das heißt, dass psychisch kranke Straftäter im Vergleich mit üblichen Straftätern bei einem identischen Delikt mit einer wesentlich längeren Einschränkung ihrer Freiheit rechnen müssen. Für sie wird die Gleichbehandlung vor dem Gesetz also zugunsten einer schwer nachweisbaren erhöhten Sicherheit der Gesellschaft außer Kraft gesetzt.

In der Tagungsauswertung im Akademie-Forum haben die Teilnehmenden dankbar festgestellt, dass die Tagung sehr anregend und interessant war. Die verschiedenen Diskussionen und Gespräche am Tage und Abend habe die Thematik vertieft und eine angenehme Atmosphäre verstärkt.

Die Ergebnisse und Vorträge werden im Band 44 der Schriftenreihe der FA publiziert. 

Die gehaltenen Vorträge finden sich auch bei YouTube:

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Dr. Thomas Scheffer